Fähigkeiten statt formaler Abschlüsse: Wie sich der Stellenmarkt in den USA wandelt

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Wenn der Bedarf an Arbeitskräften das Angebot deutlich übersteigt, legen Unternehmen in den USA bei Bewerberinnen und Bewerbern weniger Wert auf formale Abschlüsse. Stattdessen gewinnen die nachgewiesenen Fähigkeiten und Kompetenzen an Bedeutung. Zu diesem Ergebnis kommt eine nun in der renommierten Harvard Business Review veröffentlichte Studie, an der Christina Langer mitgewirkt hat. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Makroökonomik der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät Ingolstadt (WFI) und Gastwissenschaftlerin am Münchner ifo-Institut.

Zusammen mit Emsi Burning Glass, einem führenden Unternehmen für Arbeitsmarktdaten, haben Christina Langer und Professor Joseph B. Fuller (Professor für Management Practice an der Harvard Business School) mehr als 51 Millionen Stellenausschreibungen analysiert, die für den Arbeitsmarkt in den USA zwischen 2017 und 2020 erschienen sind. „Noch Anfang der 2000er Jahre begannen zahlreiche Arbeitgeber, die Beschreibungen von Stellen, für die zuvor kein Abschluss erforderlich war, um einen Hochschulabschluss zu erweitern, obwohl sich die Stellen selbst nicht verändert hatten. Dieser Trend einer „Inflation der Abschlüsse“ wurde nach der Großen Rezession 2008-2009 besonders deutlich“, schildert Christina Langer. Zu diesem Zeitpunkt erkannten führende Vertreter von Regierungen, Unternehmen und Organisationen, dass ein Neustart nötig war. Viele große Unternehmen kündigten daraufhin bald an, dass sie bei der Einstellung eines Großteils ihrer Mitarbeiter keinen Hochschulabschluss mehr voraussetzen würden. Nun interessierte die Forschenden, ob die Unternehmen ein Jahrzehnt später tatsächlich gehandelt haben.

Dabei stellten sie fest, dass die Arbeitgeber bereits vor der Pandemie die explizite Forderung nach einem Hochschulabschluss reduzierten: Zwischen 2017 und 2019 reduzierten sie die Forderung nach einem Hochschulabschluss um 46 % für Stellen mit mittlerem Qualifikationsniveau bzw. um 31 % in Positionen mit hohem Qualifikationsniveau. Langer erklärt, dass dies „am stärksten für Stellen im IT-Bereich und für Führungspositionen zutrifft, die in dieser Zeit schwer zu besetzen waren“.

Ein besonderes Augenmerk haben die Forschenden unter anderem auf den IT-Bereich gelegt, der von einem chronischen Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage geprägt sei und häufig über Unternehmen hinweg ähnlich ausgerichtete Stellen zu bieten habe. Dabei beobachteten die Autorinnen und Autoren der Studie teils deutliche Unterschiede in den Anforderungen, die verschiedene Unternehmen zum Beispiel für die Stelle eines Softwareingenieurs in der Qualitätssicherung stellen: Während Accenture oder IBM nur bei 26 bzw. 29 Prozent ihrer Ausschreibungen einen Hochschulabschluss dafür verlangten, forderten Intel, Apple oder HP in mehr als 90 Prozent der Angebote mindestens einen Bachelorabschluss, die Firma Oracle sogar ausnahmslos.

Christina Langer
Christina Langer, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Makroökonomik der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät Ingolstadt (WFI).

Doch warum verlangen so viele Arbeitgeber nach wie vor einen formalen Abschluss, wenn sich doch technische oder „harte“ Fähigkeiten durch Tests leicht verifizieren lassen? „Manches Unternehmen ist der Meinung, dass Hochschulabsolventen über bessere soziale oder ,weiche‘ Kompetenzen verfügen – etwa die Fähigkeit, in Gruppen zu arbeiten, effizient zu kommunizieren oder Prioritäten bei Aufgaben zu setzen. Diese Fähigkeiten sind weitaus schwieriger zu beurteilen, und unsere Analyse deutet stark darauf hin, dass viele Arbeitgeber den Hochschulabschluss als Proxy für diese Fähigkeiten verwenden“, so Christina Langer. Gleichzeitig lasse sich feststellen, dass Arbeitgeber, die die Anforderungen an den Hochschulabschluss aus der Stellenanzeige nahmen, dafür häufig detailliertere Anforderungen an diese Soft Skills stellten.

Nur mehr als ein Viertel der verzeichneten Änderungen in den Stellenausschreibungen lasse sich auf kurzfristige Reaktionen der Arbeitgeber auf die Pandemie zurückführen. Dies habe zum Beispiel Berufe betroffen, die als direkte Folge der Pandemie einen Nachfrageschub erlebten, wie zum Beispiel Berufe im Gesundheitswesen.  Die Forschenden sehen die Anpassung an eine vorübergehende Notsituation daher nicht als ausschlaggebend für einen grundlegenden Wandel in der Stellenpolitik der Unternehmen.

Generell sei bemerkenswert, dass Arbeitgeber wieder dazu übergingen, grundlegender für sich selbst definieren, welche Fähigkeiten sie wirklich suchen, wenn sie formale Abschlüsse nicht als Maßgabe formulieren. Dies mache wiederum Bewerberinnen und Bewerbern bewusster, welche Qualifikationen von ihnen erwartet würden. Inwiefern sich ein ähnlicher Trend auch für Europa oder Deutschland abzeichnet, lässt sich laut Christina Langer mangels entsprechender Studien derzeit noch nicht sagen. Sie möchte dieses Thema jedoch künftig erforschen.

Im Hinblick auf die USA betont sie: „Die Perspektive für Nachwuchskräfte auf gut bezahlte Arbeitsplätze, ohne zwingend in ein Studium investieren zu müssen, ist ein wesentlicher Schritt um die Ungleichheit auf dem US-Arbeitsmarkt zu verringern. Auch die Unternehmen selbst können von Vielfalt und Inklusion profitieren. Die Diversität der Arbeitskräfte sollte eine Frage der Fähigkeiten, der Eignung und des Engagements sein und nicht vom Bildungsabschluss abhängen.“ Denn zum Beispiel nur 26 Prozent der Afroamerikaner bzw. 19 Prozent der Hispanoamerikaner im Alter von 25 Jahren und älter verfügen laut U.S. Census Bureau mindestens über einen Bachelorabschluss.