Die Erfahrungen mit Distanzunterricht während der Pandemie haben wieder die Diskussion dazu in den Mittelpunkt gerückt, welche Perspektiven eine stärkere Digitalisierung für Schule und Unterricht bieten kann. „Es genügt aber nicht, Digitalisierung auf die Frage der Ausstattung mit Soft- und Hardware zu beschränken. Jede Technik hat nur dienende Funktion“, betont Prof. Dr. Heiner Böttger, der an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU) die Professur für Englischdidaktik innehat.
„Eine von der Didaktik geleitete Digitalisierung bietet vielmehr die Gelegenheit, einen Paradigmenwechsel herbeizuführen, der auch das Selbstverständnis von Bildung berührt: Kinder bekommen mehr Gelegenheit, in ihrem eigenen Rhythmus zu lernen. Lehrkräfte wiederum können von Routineaufgaben entlastet werden, um sich stärker auf die Kinder einzulassen. Lehrerinnen und Lehrer werden so gestärkt und nicht ersetzt. Digitalisierung, Individualisierung und Inklusion sind gewissermaßen beste Freunde!“ Dies unterstrich Böttger kürzlich auch bei einer Anhörung im Bildungsausschuss des Bayerischen Landtages zu Perspektiven für Bildung im Jahr 2030.
Zu Routineaufgaben zählt Böttger unter anderem die reine Vermittlung von Inhalten, wie etwa den Wortschatz einer Sprache oder die Systematik von Bruchrechnung, die man aus dem Unterricht in digitale Kanäle verlegen könne. Hier biete heute bereits der Einsatz von Künstlicher Intelligenz neue Perspektiven für die Individualisierung, wenn zum Beispiel bereits bei der Eingabe von Text die Rechtschreibung analysiert werde. Daraus könne ein Lernstandmessung generiert werden, an die Lehrkräfte dann anknüpfen. „So würden Lehrerinnen und Lehrer Freiraum für das haben, was sie am besten können, nämlich beim Kompetenzaufbau fördern. Im Gegensatz zum aktuellen Standard in Klassenzimmern, bei dem alle im selben Raum parallel identische Aufgaben bearbeiten“, so Böttger.
Um Spielraum für den Wechsel von selbstgeleiteten Phasen und persönlicher Förderung durch die Lehrkräfte zu erhalten, sind für Böttger mehrere Grundlagen erforderlich. Eine davon bestehe in einem Umdenken weg vom expliziten Schulvormittag hin zu einer „echten“ Ganztagesschule, die nebenbei auch nachgewiesenen Erkenntnissen der Hirnforschung in Verbindung mit Pädagogik und Psychologie Rechnung trage: „Die Schule der Zukunft endet nicht um 13 Uhr. Kinder haben gewissermaßen einen permanenten Jetlag. Für sie ist es innerlich noch fünf Uhr in der Früh, wenn die erste Schulstunde beginnt. Besser wäre es, von 9 bis 15 Uhr den Austausch mit den Lehrkräften anzusetzen, nachmittags dann die digitalen Selbstlernphasen.“ Zudem würde so nicht nur ein Schulleben, sondern im Sinne einer Identifikation ein Leben in der Schule entstehen. Andere Länder, in denen die Ganztagesschule das Regelmodell sei und Schulen mehr Eigenverantwortung tragen würden, hätten durchweg positive Erfahrungen damit gesammelt. „Wir müssen weg von Pilotversuchen hin zu einer Institutionalisierung.“
Erkenntnisse der Neurowissenschaften fließen auch ein in das zentrale Forschungsgebiet von Professor Böttger – das frühe Lernen von Fremdsprachen. Bei einer von seiner Professur ausgerichteten Online-Tagung zu dieser Thematik mit mehr als 600 Teilnehmenden betonte erst kürzlich der Neurobiologe und Lernforscher Prof. Dr. Martin Korte die generell positive Wirkung von frühem Fremdsprachenunterricht auf die Vernetzung im Gehirn: „Nicht nur die fremde Sprache wird besser gesprochen und verstanden, sondern auch die deutsche Sprache.“ Generell verbesserten sich die Kommunikationsfähigkeit und Empathie – Faktoren, die auch gesellschaftlich und im Berufsleben unerlässlich seien. Als Leiter der PISA-Studie berichtete OECD-Bildungsdirektor Prof. Dr. Andreas Schleicher zudem, dass Schüler, die mindestens zwei Sprachen beherrschen, weltoffener seien und flexibler auf Veränderungen reagieren.
Dies deckt sich zudem mit Ergebnissen des bayernweiten Modellversuchs „Lernen in zwei Sprachen – Bilinguale Grundschule Englisch“, den Böttger wissenschaftlich begleitet hat. Demnach haben Grundschülerinnen und –schüler, die ihren Sachunterricht in englischer Sprache erhalten, nicht nur deutlich bessere Englischkompetenzen, sondern weisen auch in den Fächern Deutsch und Mathematik bessere Leistungen auf als Kinder in herkömmlichen Klassen. „Damit bestätigt sich die Hypothese, dass zweisprachig Unterrichtete bzw. Aufwachsende durch die Herausbildung von neuen Netzwerken im Gehirn kognitive Vorteile entwickeln, die weit über das reine Englischlernen hinausreichen“, erklärt Böttger.
Für ihn beginne Bildungsgerechtigkeit bei Sprache. Es gelte, frühzeitig von einem Lesenlernen hin zu einem Lernen durch Lesen zu kommen, um Informationen aus Texten ziehen zu können. Wenn man sprachlich nicht angemessen gebildet sei, könne man später die Inhalte von Texten nicht begreifen. An der Entwicklung eines Instrumentes für diesen Weg ist der Englischdidaktiker gerade mit seinem Team und Studierenden in Form der Lernplattform „Brainix“ selbst beteiligt, die von der „Stiftung Digitale Bildung“ des Software-Unternehmers Jürgen Biffar initiiert worden ist. Ohne kommerziellen Hintergrund testet das Entwicklungsteam derzeit bereits in Kooperation mit verschiedenen Schulen die Technik und das didaktische Konzept, an dem auch Studierende der KU mitwirken. Arbeitsgrundlage sind dabei derzeit die Lernpläne der 6. Klassen an bayerischen Gymnasien für die Fächer Mathematik und Englisch.
Das Lernprogramm passt sich den unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten der Schülerinnen und Schüler an. In der Praxis besteht damit beispielsweise die Möglichkeit, eine Klasse zu teilen. Eine Hälfte bearbeitet Aufgaben am Computer während die andere den Lernfortschritt mit dem Lehrer reflektiert. Zudem werden Lerninhalte in Brainix zum Beispiel in emotional ansprechende Geschichten eingebettet – von einer Zeitreise über einen Tagtraum bis hin zu einer Umweltdemo. „Es genügt nicht, Lehrstoff in E-Books zu verlagern oder Links zu Wissensfilmen auf Youtube zu verschicken, um von vollwertigem Unterricht in digitaler Form sprechen zu können“, betont Professor Böttger.
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