Zur Überlierferungsgeschichte der Tabula Peutingeriana

Denkbare Überlieferung der Tabula vom Archetypus um 200 v. Chr. bis zur mittelalterlichen Abschrift um 1200.

Falls es die Agrippakarte gegeben haben sollte, gehört sie jedenfalls, anders als bislang von der Forschung angenommen, als erste römische Oikumene-Darstellung in die Abhängigkeit jener hellenistischen Kartentradition. Damit ist auch klar, dass keineswegs die Tabula Peutingeriana von der Agrippakarte abhängt, sondern im Gegenteil der Archetypus der uns vorliegenden Fassung vermutlich eine Art Vorlage für die Agrippakarte gewesen ist. Für diese Annahme spricht der allgemeine kulturgeschichtliche Umstand, dass Rom nach unserem Kenntnisstand bis zum Beginn des Principats keine eigene Kartographie ausgebildet hatte und allgemein ein Wissenstransfer von Hellas Richtung Rom in spätrepublikanisch-frühkaiserzeitlicher Zeit nachweisbar ist. Warum sollten also nicht auch die Hersteller der Agrippakarte für dessen imperial-römisches Weltbild auf eine hellenistische Karte zurückgegriffen haben? Zum besseren Verständnis des soeben Dargelegten die Graphik rechts.

 

Aufgrund der Neupositionierung der Tabula innerhalb der antiken Kartengenese lassen sich weitere Feststellungen machen. Sie betreffen die kartographische Form der abgebildeten Landmassen in Kombination mit den rund 3700 Einträgen, wie Ortsnamen, Völkern, Provinzen und erzählenden Legenden. So erklärt zwar das Zeichnen auf eine Pergamentrolle die massiven Verzerrungen und die konsequente Aussparung der Wasserflächen, jedoch nicht die Menge des dargestellten Landes. Im Kopierprozess wurde zwar an vielen Stellen die Beschriftung neuen Realitäten angepasst, der geodätische Grundtorso blieb hingegen annähernd unverändert.

Die Erklärung für dieses Phänomen sind die unterschiedlich großen Schwierigkeiten im Schreiben und Zeichnen: Eine Beschriftung partiell zu ändern, stellt kein Problem dar, wohingegen ein einmal vorgelegter Kartentypus eine beachtliche Lebensdauer hatte, bevor er durch einen Neuentwurf verdrängt wurde. Und allem Anschein nach verdrängten außerhalb der mathematisch-physikalischen Geographie neue Karten ihre Vorgängerversionen nicht oder nur sehr schleppend. Anders ausgedrückt: In der Chorographie überdauerten Kartentypen offenbar im Reproduktionsprozess selbst dann, wenn sie geodätisch überholt waren. Gleiches gilt übrigens auch für die geographischen Werke z. B. von Strabon oder Pomponius Mela, die zum Zeitpunkt ihrer Publikation bereits veraltet waren und vor allem tradiertes Wissen transportierten. Anders als in der modernen Wissenschaft gab es in der Antike hier keinen linearen Wissenszuwachs.

Vor diesem Hintergrund sollte auch die kartographische Grundversion der Tabula gesehen werden, deren chorographischer Charakter keinen kartographischen Finessen genügen wollte. Für die Chorographen war offenbar entscheidend, dass der primär interessierende Raum der Mittelmeer-Oikumene visualisiert war und dessen Binnengliederung durch weitere Informationen auf der Ebene der Beschriftung im Rezeptionsprozess halbwegs aktuell erschien. Die Ränder der Oikumene beziehungsweise die Regionen außerhalb des Imperium Romanum interessierten demgegenüber offenbar wenig. Hier reichte es, wenn man mit Anspielungen auf eine gewisse Form der antiken Allgemeinbildung, wie beispielweise auf die Alexanderaltäre als Fixpunkt im äußersten Osten, Rezipientenerwartungen bedienen konnte.

Nun stellt sich die Frage, wie der Kopierprozess inklusive der Veränderungen in der Binnenbeschriftung der Tabula in der Zeit zwischen 200 v. Chr. und 435 n. Chr. vonstatten ging. Zur Veranschaulichung siehe die Abbildung unten. Zunächst ist anzunehmen, dass der Archetypus um 200 v. Chr. den Gepflogenheiten des Hellenismus entsprechend auf Papyrus gezeichnet wurde. Dieser Beschreibstoff war relativ leicht aus Ägypten zu beschaffen. Er hatte aber den erheblichen Nachteil, dass er bei regelmäßiger Nutzung trotz pfleglicher Behandlung nach rund 50 Jahren irreparabel geschädigt war und die Inhalte auf einen neuen Papyrus abgeschrieben werden mussten. Nach allem, was wir über das antike Buchwesen wissen, sind zahlreiche Buchrollen in der römischen Kaiserzeit auf Pergament übertragen worden. Diese gegerbten und mit Kreide gebleichten Tierhäute waren zwar ungleich teurer, aber auch deutlich haltbarer. Es ist zu vermuten, dass die Kartenrolle, war sie einmal auf den Beschreibstoff Pergament übertragen, deutlich weniger oft kopiert werden musste.

Denkbarer Kopierprozess der antiken Tabula vom Archetypus bis zur letzten Redaktionsstufe um 435 n. Chr.

Diese diversen Kopierschritte sind zentral, um Veränderungen und Anachronismen in der Beschriftung der Tabula zu verstehen. Denn bei jeder Übertragung von einem Papyrus auf den nächsten oder später auf ein Pergament konnte der Schreiber nach seinem Kenntnisstand Veränderungen an der Legende vornehmen. Hatte er Informationen von einer neuen Stadt, einem neuen Stamm oder einer neuen Provinz, so konnte er diese nachtragen. Im Gegenzug konnte der Kopist alle oder ihm unwichtig erscheinende Toponyme auslassen. Vielleicht aber wollte er den einen oder anderen Ortsnamen aus antiquarischem Interesse beibehalten. In diese Rubrik fällt etwa die Legende bei Jerusalem: „Früher hieß [diese Stadt] Jerusalem, jetzt Aelia Capitolina“ (antea dicta Herusalem, modo helya capitolina).

Jerusalem mit dem Ölberg (MONS OLIUETI) auf der Tabula.

Durch die Veränderungen der Tabula im Zuge des Austauschprozesses, der sich über rund 650 Jahre vom Ur-Typus um 200 v. Chr. bis zur letzten antiken Redaktion um 435 n. Chr. erstreckte, sind auch einige für die hellenistische Geographie typische Bestandteile sukzessive ausgefallen. Dabei handelt es sich vor allem um Informationen für die Schifffahrt. So finden sich am Bosporus wie in Alexandria noch Leuchttürme. An der Südspitze der Peloponnes hat sich sogar noch der Rest einer Distanzangabe zwischen Boiai und der gegenüberliegenden Insel Kythera gehalten und im Süden Indiens wird vor Piraten gewarnt. Derartige Informationen dürfen, wie uns die reiche Seefahrerliteratur der Griechen (periplus) und nicht zuletzt der bereits erwähnte Artemidor-Papyrus nahelegen, vermutlich deutlich umfangreicher gewesen sein.

aus: Rathmann, Michael, Tabula Peutingeriana. Die bedeutendste Weltkarte aus der Antike, eingeleitet und kommentiert von Michael Rathmann, 4., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Darmstadt 2022, S. 21-23.