Elegant, effektiv und exakt: Neue mathematische Modelle für die Materialwissenschaft

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Die Motorhaube verformt sich zur Berglandschaft, die Frontscheibe zersplittert – in vollkommener Stille, ohne Verletzte. Unfallsituationen werden heute vermehrt durch Crashsimulationen von Hochleistungsrechnern nachgestellt. So können Entwickler noch vor Bau eines Prototypen Mängel erkennen und verbessern. Das spart einige teure echte Crashtests ein und erhöht die Fahrsicherheit. Zumindest wenn alles richtig berechnet wird. Die theoretischen Grundlagen dafür liefern Mathematiker und Mathematikerinnen wie Prof. Dr. Carolin Kreisbeck von der KU.

Der Wert solcher Grundlagenforschung zeigt sich auch darin, dass Carolin Kreisbeck für ihr aktuelles Projekt in Kooperation mit ihrem spanischen Kollegen Prof. Dr. Carlos Mora Corral (Universität Madrid) nun eine Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und deren spanisches Pendant (AEI) bewilligt bekam. Unter dem Titel „Nichtlokale Gradienten in Variationsrechnung und Materialmodellierung: Grenzwerte, Kerne, Ränder“ möchten die beiden Wissenschaftler in den kommenden drei Jahren eine nichtlokale Verformungstheorie auf stabile Beine stellen. „Wir arbeiten an der theoretischen Fundierung mit dem Ziel, realistische Beschreibungen von Materialverhalten zu erhalten, die im Vergleich zu bisherigen Ansätzen Vorteile bringen“, erklärt Carolin Kreisbeck, die an der KU den Lehrstuhl für Analysis innehat. Unter anderem habe man die Hoffnung, dass man so verschiedene Effekte in einem einheitlichen Modell verbinden könne: „Die Idee ist, in einem nichtlokalen Modell zum Beispiel gleichzeitig  elastische und plastische Verformungen sowie Brüche und andere Schädigungseffekte beschreiben zu können.“

Für den Bereich der Materialwissenschaft könnte das zum Beispiel noch effektivere und effizientere Simulationen bedeuten. Auch wenn Kreisbeck einräumt, dass etliche Ingenieure in ihrer Berufspraxis bereits nichtlokale Modelle nutzen: „Die funktionieren oft ganz gut, aber die saubere mathematische Fundierung, der mathematische Beweis fehlt.“ Als angewandte Mathematikerin treiben sie zwei Motivationen an: „Für mich sind der Kick schon die mathematischen Fragen, dass ich möglichst allgemeine Konzepte formulieren kann. Aber ich will auch, dass das, woran ich arbeite, Bezug zur Realität hat.“ Für die nichtlokalen Modelle sehen Kreisbeck und ihr Kollege Mora Corral möglichen Anwendungsbezug nicht nur in den Materialwissenschaften, sondern auch in Bereichen wie Bildverarbeitung oder maschinelles Lernen.

Lokale und nichtlokale Gradienten

Die mathematischen Kernobjekte des Projekts, die nichtlokalen Gradienten, fallen unter das Konzept der Ableitung. Die Ableitung einer Funktion misst deren lokales Änderungsverhalten. Zeichnet man eine Funktion einer Variable als Kurve in ein Koordinatensystem ein, so gibt die Ableitung in einem Punkt an, wie stark die Kurve dort steigt oder fällt. In der Mathematik bleibt es nicht bei dieser einfachen Form von Funktionen mit einer einzigen Variablen. „Das Konzept funktioniert auch mehrdimensional, dann ordnet man beispielsweise einem Paar von reellen Zahlen eine weitere Zahl zu“, erläutert Mathematikprofessorin Kreisbeck. „Der Graph bei zwei reellen Variablen sieht ein bisschen aus wie ein fliegender Teppich.“ Der Gradient ist für genau solche Funktionen mit mehreren Variablen gedacht. Als Verallgemeinerung der Ableitung gibt er nicht nur die Steigung einer Funktion in einer Dimension an, sondern in welche Richtung sich eine Funktion wie stark in mehreren Dimensionen, beispielsweise im Raum, ändert.

Gerade in der praktischen Anwendung stoßen jedoch diese „normalen“, lokalen Gradienten teils an Grenzen, da auch nichtlokale Wechselwirkungen und globale Effekte berücksichtigt werden müssen, um präzisere Vorhersagen zu treffen. Einen nichtlokalen im Unterschied zum lokalen Gradienten vergleicht Carolin Kreisbeck mit Hilfe eines Balls statt einem Punkt: „Wir schauen nicht mehr punktuell, sondern gemittelt über das Volumen des ganzen Balls, welche Änderungen passieren, und können so gewisse kleinskalige Effekte schon abhandeln.“ Beispielsweise ließen sich so unterschiedliche Längenskalen überbrücken.

Gradienten im praktischen Einsatz

Für den mathematischen Laien anschaulich wird dies mit Blick auf ein Anwendungsfeld. In der Automobilindustrie etwa kommen verschiedene Verbundwerkstoffe zum Einsatz, also Mischungen verschiedener Materialkomponenten mit einer feinen Struktur. Die Materialforschung interessiere sich nicht dafür, wie genau die Zusammensetzung an welchem Punkt ist, sagt Kreisbeck: „Wichtig ist vielmehr: Wie verhält sich der Werkstoff makroskopisch? Was sind die mechanischen Eigenschaften des Materials?“ Die feinen Strukturen seien für die Materialwissenschaften entscheidend, aber schwierig zu analysieren. Über nichtlokale Gradienten lassen sich gewisse Mittelungseffekte über feine Skalen  in die Modelle einbauen. „Wenn ich die feinen Skalen in diesem Schritt herausmittele, mache ich mir das Leben leichter und repräsentiere trotzdem das effektive Verhalten“, erläutert Kreisbeck. „Ich kann so auf gute Weise den kompletten Effekt auf einmal mitnehmen.“

Auch rein mathematisch seien nichtlokale Gradienten attraktive und spannende Objekte, betont die Professorin: „Solche Operatoren sind allgemeiner als klassische Gradienten, sie funktionieren auch für komplizierte Funktionen, die etwa vielfach  springen und keine schöne Kurve ergeben.“ So lassen sie sich in der Praxis beispielsweise auch auf Funktionen, die Bruchverhalten beschreiben, sinnvoll anwenden. Darauf basiert auch die Hoffnung, ein einheitliches Modell zur Erklärung verschiedener mechanischer Eigenschaften schaffen zu können. „Mit den nichtlokalen Gradienten haben wir ein allgemeineres Konzept zur Beschreibung von Änderungsverhalten zur Hand.“

Einen besonderen Schwerpunkt legt das Projekt auf asymptotische variationelle Analysis, also Grenzwerte und Grenzprozesse. „Uns interessiert vor allem die nichtlokal-zu-lokal Konvergenz“, sagt Carolin Kreisbeck. Bezogen auf die Ball-Punkt-Metapher: Wenn der Ball als Symbol des nichtlokalen Gradienten auf einen Punkt zusammenschrumpft, dann sollte man am Ende wieder beim lokalen Gradienten landen. „Das ist ein wichtiger Cross-Check: Macht das neue, allgemeinere Modell Sinn? Liefert es im Grenzwert tatsächlich das, was die Leute bisher mit dem lokalen Ansatz gemacht haben?“  

Langjähriger deutsch-spanischer Austausch als Basis

Dass sie solche Fragen nun gemeinsam mit Prof. Dr. Carlos Mora Corral von der Universität Madrid, gefördert von DFG und der spanischen Forschungsgemeinschaft AEI behandelt, sei einerseits Zufall, andererseits Frucht einer langjährigen Vernetzung. Kennengelernt haben sich die beiden Projektpartner erstmals vor mehr als zehn Jahren auf einem Workshop und sind vor fünf Jahren über eine Veröffentlichung zum gleichen Thema wieder in Kontakt gekommen. Sie blieben im Austausch, schickten Doktoranden für Forschungsaufenthalte zum jeweils anderen an den Lehrstuhl. Als DFG und AEI eine Ausschreibung spezifisch für deutsch-spanische Kollaborationen im Bereich Mathematik veröffentlichte, war das für die beiden Mathematiker ein Wink des Schicksals – und keine Frage, dass sie einen gemeinsamen Projektantrag einreichen.