Montag, den 26.09.2022, 1030–1230 und 1400–1600 Uhr
Der kreative Umgang mit Mehrdeutigkeiten spielt beim literarischen Übersetzen eine zentrale Rolle. Dies wird besonders deutlich, wenn man verschiedene Übersetzungen desselben Werks miteinander vergleicht. So lässt sich anhand der Erst- und Neu- übersetzungen von Raymond Queneaus Exercices de Style zeigen, wie unterschiedlich die Übersetzer mit der Gleichzeitigkeit von semantischer Ambivalenz und formalen Zwängen umgehen, gerade auch vor dem Hintergrund divergierender gesellschaftlicher Entstehungskontexte. In der Neuübersetzung von Emily Brontës Wuthering Heights hat Wolfgang Schlüter sich entschieden, Schockierendes nicht – wie seine Vorgänger*innen – zu glätten. Dabei spiegeln sich die Mehrdeutigkeiten im Schwanken der Neuüberset- zung zwischen der Sprache des 19. Jahrhunderts und derjenigen von heute. Elisabeth Edls Neuübersetzung von Gustave Flauberts Madame Bovary wiederum hat, anders als beispielweise die von René Schickele, Konflikte zwischen Figuren verschärft und damit Eindeutigkeiten geschaffen.
Übersetzer*innen müssen sich immer wieder neu und individuell entscheiden: Wollen sie Mehrdeutigkeiten als solche im Zieltext bewahren? Oder wollen sie ihren Inter-pretationsspielraum nutzen, um Ambivalenzen zu vereindeutigen oder gegebenenfalls sogar um neue zu kreieren und dem Original auf diese Weise eine zusätzliche Dimension zu verleihen? Hören, Lesen, Interpretieren und die Wiedergabe der eigenen Interpretation sind beim Übersetzen untrennbar verbunden, wie es Friedhelm Kemp metaphorisch fasst: „Das Ohr, das spricht“.
Das Doppelpanel fragt nach den kreativen Strategien deutschsprachiger Überset- zer*innen im Umgang mit Mehrdeutigkeiten im Ausgangstext und danach, ob Neuübersetzungen tendenziell ein Mehr an Ambivalenz zulassen.
Programm I
Moderation: Prof. Dr. Isabelle Stauffer
10:30-11:10 Uhr: Prof. Dr. Angela Sanmann (Lausanne): Bestimmungen des Unbestimmten: Für eine Typologie literarischer Ambiguität in Übersetzung
11:10-11:50 Uhr: Prof. Dr. Irene Weber Henking (Lausanne): Von der Schwelle über den Sims an den Saum – Wie die Blicke bei Flaubert übersetzen
11:50-12:30 Uhr: Prof. Dr. Vera Viehöver (Lüttich): Erotik und Mehrdeutigkeit. Neuübersetzungen der Lettres de Ninon de Lenclos zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Programm II
14:00-14:40 Uhr: Prof. Dr. Isabelle Stauffer (Eichstätt-Ingolstadt): Vieldeutige Briefe. Mehrdeutigkeiten der Liaisons Dangereuses in den Übersetzungen von Franz Blei und Heinrich Mann
14:40 Uhr-15:20 Uhr: Timo Sestu (Berlin): Zwischen Buchstabentreue und Klangbedeutung: Oskar Pastior übersetzt Petrarca
15:20 Uhr-16:00 Uhr: Dr. Esther von der Osten (Berlin): Übersetzbarkeit und Hörbarkeit bei Hélène Cixous