Tagliacarne war rund 22 Jahre Professor in Eichstätt. Er wurde 1948 in Sannazzaro de Burgondi (Pavia) in Italien geboren. Durch das Theologiestudium konnte er 1972 das Lizentiat in Katholischer Theologie an der Universität Gregoriana in Rom erwerben. Nach dem Studium der Biblischen Wissenschaften am Päpstlichen Bibelinstitut in Rom erhielt unser Referent 1976 das Lizentiat "in rebiblica". Im Anschluss folgte eine achtjährige Tätigkeit als Mitarbeiter bei der Übersetzung von Exodus und Deuteronomium bei der ökumenischen Übersetzung des Alten Testaments in das Italienische. Parallel hierzu wurde er zunächst 1980 Lehrbeauftragter für das biblische Hebräisch an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Passau. Ab 1985 wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter für Biblische Einleitungswissenschaft sowie Alttestamentliche Exegese. Es folgte die Promotion 1988 mit dem Thema „"Keiner war wie er": Untersuchung zur Struktur von 2 Könige 22-23“ an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Nach einer erneuten Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Exegese des Alten Testaments an der Universität Passau erhielt er 1991 den Ruf nach Eichstätt auf die Professur für die Exegese des Alten Testaments und Biblische Didaktik an der Fakultät für Religionspädagogik / Kirchliche Bildungsarbeit. Neben einer langjährigen Lehrtätigkeit für alttestamentliche Einleitungswissenschaften an der Hochschule für Philosophie in München ist er seit zehn Jahre Katholischer Vorsitzender der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in München.
Tagliacarne lieferte zunächst einen chronologischen Überblick der Geschichte von Babel/Babylon und Jerusalem (Zion). Dabei betont Tagliacarne die Gemeinsamkeiten der „Kontrahenten“. In beiden Fällen waren wirtschaftliche und geostrategische Ursachen für Stadt- und späteren Reichsgründungen vorgelegen. Und wie bei den Hebräern Moses so hatte in der Vorstellung der Babylonier der König Hammurabi die Gebote aus göttlicher Hand empfangen. Doch während Jerusalem immer das „Dorf“ blieb konnte sich Babylon zur Metropole entwickeln. Die Berührung der beiden Städte, die Babylon zunächst militärisch für sich entscheiden konnte, verlief tragisch aber, wie Tagliacarne betont, eben nicht nur. Die sprichwörtliche „babylonische Gefangenschaft“ bedeutete zwar eine Deportation, diese sei aber nicht mit den Assoziationen des 20. Jahrhunderts zu vergleichen. Es wurden zum einen keine ganzen Volksgruppen umgesiedelt sondern die Intelligenz und die Handwerker. Diese wurden dann zum anderen in Babylon auch nicht ausgegrenzt sondern sollten mit ihren Fähigkeiten zur wirtschaftlichen Prosperität des Reiches beitragen. Für Exilanten war der kulturelle Schmelztiegel, den die Metropole am Euphrat darstellte beeindruckend aber auch verirrend. Somit bedeutet auch der Name Babel „Verwirrung“. Nach dem Exil blieb jedoch ein Teil der Deportierten in ihrer neunen Heimat. Für Tagliacarne ist dies der Beweis dafür welche Möglichkeiten das Leben dort bot, die es in Jerusalem nicht gab.
In seinem zweiten und dritten Schritt betrachtet Tagliacarne die Entstehung des Gegensatzes zwischen Jerusalem und Babel im theologischen Kontext des Ersten und Zweiten Testaments. Die Juden, von denen es unterschiedliche Richtungen gab und gibt, gerieten ab dem 2. Jahrhundert vor Christus verstärkt in den Konflikt zwischen Ptolemäern und Seleukiden, in den auch bald Rom eingriff. Nun erst tritt die Betonung des negativen Aspektes der Gefangenschaft verstärkt hervor. Babylon bot die Chiffre für Kritik an den bestehenden politischen Machtverhältnissen. Es gilt nun als die Stadt des lästerlichen Turmbaus und wird in den Psalmen als die „Zerstörerin“ charakterisiert. Damit geht nicht eine Aufwertung Jerusalems einher, denn dessen Abkommen vom Weg Gottes wird als Ursache des Exils gedeutet. Erst das in der Offenbarung des Johannes verheißene „Himmlische Jerusalem“ gilt schließlich als Kontrast zum sündenbehafteten Machtzentrum als Euphrat welches dann symbolisch als eine auf einem Drachen reitende Hure beschreiben wird.
In seinem vierten Schritt behandelt Tagliacarne die Wirkungsgeschichte des Gegensatzes beider Städte. Philo und Clemens von Alexandrien, Aurelius Augustinus, Martin Luther haben sich damit auseinandergesetzt, Dante und Lucas Cranach davon inspirieren lassen. Die Gefangenschaft galt als Folge von der Abkehr vom Glauben und hingegen Gottesfurcht und damit Kirchentreue bedeuten die Erwatung des „Himmlischen Jerusalem“. So war beispielsweise während der Zeit der Kreuzzüge die Vorstellung weit verbreitet, dass die Befreiung des irdischen Jerusalems von den „ungläubigen“ islamischen Herrschern die Bedingung wäre, dass das „Himmlische Jerusalem kommen“ könne. Hingegen sah sich ein Saddam Hussein als die Reinkarnation des babylonischen Königs Nebukadnezars und propagierte seine expansionistischen Bestrebungen als die Wiedererrichtung des Babylonischen Reiches.
So bilanziert Tagliacarne über Jerusalem es war Wirklichkeit, wurde Geheimnis und schließlich Prophetie. Bei Babylon resümiert er, dass auch diese Stadt einst real war, die Vorstellung ihrer Sündenbehaftung aber Imagination. Während das Dorf „Jerusalem“ noch heute existiert, wurde die Metropole aber Vergangenheiten, ihre Imagination, die Gefahr der Versuchung, sieht Tagliacarne heute aber realer denn je.
Tobias Hirschmüller