Mit Verbrechen und deren Verfolgung in der Vergangenheit und der Darstellung in der Literatur befassen sich Studierende der KU in diesem Wintersemester in einer Lehrveranstaltung mit dem Titel „Henker und Mörder: Erzählungen von Verbrechen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit“. Das Seminar ist eine Kooperation der Fachbereiche Ältere und Neuere deutsche Literaturwissenschaft und untersucht Verbrechenserzählungen vom 15. Jahrhundert bis etwa 1720. Gemeinsam mit den Professorinnen Caroline Emmelius und Isabelle Stauffer haben die Studierenden nun das 500 Jahre alte Henkerhaus in Nürnberg besucht.
Das Gebäude diente jahrhundertelang als Dienstwohnung der Nürnberger Henker und ihrer Familien und ist nun ein Museum für Rechts- und Kriminalgeschichte. Die Bibliothek des Germanischen Nationalmuseums bewahrt Abschriften vom Tagebuch des berühmtesten Nürnberger Henkers Franz Schmidt (1554-1634) und kolorierte Einblattdrucke zu spektakulären Mordfällen auf. Heute findet sich im Henkerhaus eine Ausstellung mit Bildern und Texten aus der Rechts- und Kriminalgeschichte Nürnbergs. An einer Hörstation werden Teile aus dem Henkertagebuch vorgelesen, an einer Wand mit Klappen werden sprichwörtliche Redensarten aus der Rechtsgeschichte erklärt. So beschreibt die Redensart „etwas ausgefressen haben“ ursprünglich eine gerichtliche Anordnung, die erfolgen konnte, wenn ein Schuldner zahlungsunfähig war. Dann konnten nämlich mehrere „Fresser“ bei ihm zwangseinquartiert werden, bis seine Lebensmittelvorräte so reduziert waren, dass der Schuldner entweder seine Schulden bezahlte oder Haus und Hof verließ.
Studierende vor einer Abschrift des Henkertagebuchs
Bewohnt wurde das Henkerhaus auch von Franz Schmidt und seiner Familie. In seinem chronikartigen Tagebuch, das er von 1573 bis 1618 führte, listet er „all sein richten“ und auch alle „leibsstrafen“ auf, die er in Nürnberg und Umgebung verrichten musste. In seinen 40 Jahren Henkerstätigkeit hat Franz Schmidt 361 Exekutionen und 345 Leibstrafen durchgeführt. Dabei musste er gemäß der peinlichen Halsgerichtsordnung von Kaiser Karl V. (Constitutio Criminalis Carolina) Todesstrafen wie Enthaupten, Hängen, Vierteilen, Rädern, Ertränken oder Verbrennen vollziehen oder auch Leibesstrafen durchführen – wie mit Ruten aus der Stadt prügeln, Ohren abschneiden, die Hand oder Schwurfinger abschlagen und sogar einmal einem Glaser wegen Gotteslästerung ein Stück seiner Zunge abschneiden. Vor ihrer Verurteilung, so erfuhren die Studierenden auf der Stadtführung zu Mördern, Fälschern und Messerstechern, wurden die Delinquenten im Lochgefängnis unter dem Nürnberger Rathaus inhaftiert und gefoltert. Denn ohne Zeugen oder Geständnis war nach der Carolina keine Verurteilung möglich.
Schmidts Tagebuch beinhaltet nicht nur eine nüchterne Auflistung von Hinrichtungen, sondern auch narrative Elemente. Manche Einträge können als Keimzellen für Kriminalgeschichten gelesen werden. Von einem der besonders spektakulären Mordfälle, bei denen Franz Schmidt für die Hinrichtung des Mörders zuständig war, ist zudem ein koloriertes Flugblatt erhalten.
Flugblatt: Der Vatermord und die Hinrichtung Frantz Seuboldts aus Gräfenberg, am 23. Oktober 1589 in Nürnberg. 1589-1590. Von Lucas Mayer (Verleger). Ex. Nürnberg GNM.
Mit Bildern und Text werden die Tat und die Hinrichtung des hinterlistigen Vatermörders Frantz Seuboldt von Strölnfelß dargestellt. Dieser hatte Geldprobleme und wollte deshalb ursprünglich seinen Vater vergiften. Als ihm das nicht gelungen ist, hat er ihn aus dem Hinterhalt erschossen und wurde wegen eines Handschuhs, den er am Tatort verloren hatte, überführt. Aufgrund seines hinterlistigen Mordes wurde Seuboldt auf der Fahrt zum Hinrichtungsort mit glühenden Zangen gezwickt und dann mit dem Rad zu Tode gestoßen – eine sehr qualvolle Hinrichtungsart.
„Obwohl eine Abschrift des Henkertagebuchs und einige der Einblattdrucke digitalisiert sind, ist die Begegnung mit der Materialität dieser jahrhundertealten Medien nicht hoch genug einzuschätzen“, sagt Prof. Dr. Isabelle Stauffer. Die unterschiedlich geprägten und gefärbten Ledereinbände, die verschiedenfarbigen Tinten, variierende Papierqualitäten, der Wechsel von sehr regelmäßigen und sehr unleserlichen Schreibhänden oder sogar ein Adler als Wasserzeichen auf der ersten Seite würden sich den Studierenden erst im direkten Kontakt mit den Gegenständen vermitteln.
Studierende entdecken ein Wasserzeichen
Besonders im Gedächtnis bleibe den Studierenden die Brillanz der Farben bei vor Jahrhunderten kolorierten Einblattdrucken. „Um die Feinheiten ihrer Bilder zu erfassen, in denen meist eine zeitliche Abfolge als räumliches Nebeneinander dargestellt wird, wurden für uns im Saal der Graphischen Sammlung Lupen bereitgelegt.“ Die Einblattdrucke mit ihrem intermedialen Bild-Text-Verhältnis ließen sich als soziale Medien des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit verstehen, so Stauffer. Der Fall des Vatermörders Frantz Seuboldt ist durch das Henkertagebuch bezeugt – aber es gibt auch erfundene Fälle. Heute würde man diese als „Fake News“ bezeichnen.