Christliche Spiritualität in Zeiten des Umbruchs – 1: Spiritualität in der Krise

Sind Glauben und Kirche in Zeiten der Krise noch ‚systemrelevant‘ oder erweisen sie sich als verzichtbar? Diese Frage kam in den letzten Wochen in den Medien immer wieder auf. Dabei geht es nicht nur um die mehr oder weniger ausgeprägten „religiösen Bedürfnisse“ von Menschen, sondern grundlegender um die Frage, welche Bedeutung dem Gottesglauben und der gelebten Spiritualität in einer solchen Krise zukommen. Dazu ein erster Beitrag aus der aktuellen Vorlesung zur christlichen Spiritualität von Martin Kirschner.

Es wurde in den letzten Wochen öfter darüber diskutiert, ob sich in der Corona-Krise zeige, dass Theologie und Gottesglaube nicht mehr „systemrelevant“ seien: Öffentliche Gottesdienste wurden ohne Widerspruch und Protest eingestellt, sogar in der Osterzeit, am höchsten christlichen Fest, während z.B. Baumärkte mancherorts geöffnet blieben; aus Kirche und Theologie kämen nur wenige relevante Beiträge zur öffentliche  Debatte; die Deutung der Pandemie bleibe den Virologen überlassen... Ich halte diese Vorwürfe nur zum Teil für berechtigt: Die Stimmen aus Theologie und Kirche haben sich im Laufe der Pandemie immer deutlicher zu Wort gemeldet[1]. Die Fokussierung der tonangebenden Medien und Nachrichtensendungen auf Epidemologen, abstrakte Hochrechnungen und Statistiken kann zwar wie das Starren auf die Schlange und das ritualisierte Umgehen mit einer schwer fassbaren Krise scheinen (ähnlich wie nach 9/11 der Einsturz der Zwillingstürme in Dauerschleife gezeigt wurde), aber in der ersten Phase des generellen „Lock-Down“ nach dem akuten Ausbruch der Pandemie war dies vermutlich notwendig und unvermeidlich. Dauerlösung ist es keine. Sowohl in Blick auf die Freiheitsrechte wie auf eine funktionierende Demokratie wie auch in geistlicher Hinsicht wäre es fatal, wenn das Leben mit dem Virus dauerhaft von der Angst vor Ansteckung, von sozialer Isolation und einem auf Dauer gestellten Ausnahmezustand geprägt würde. Mit dem Ende dieser ersten Phase hat die öffentliche Auseinandersetzung um die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen und den richtigen Umgang mit dem Risiko begonnen.

Aber worin liegt der spezifische Beitrag von Theologie(n) und Kirche(n) in der Pandemie? Genauer: Worin kann der spezifische Beitrag einer christlichen Spiritualität in dieser Pandemie und der mit ihr verbundenen Krise liegen?

Der folgende zum Download angebotene Text geht von drei Erwartungen aus, die häufig an den Glauben, an die Kirche bzw. an Spiritualität herangetragen werden. Diese Erwartungen sind mit Vorstellungen der Nützlichkeit, der Wirksamkeit und der Macht des Glaubens verbunden, die zwar verständlich sind, die der christliche Glaube jedoch letztlich enttäuschen muss. Christliche Spiritualität – so die These des Textes – macht nicht immun gegen die Krise und erspart nichts, sondern sie führt in die Krise hinein, rückt dabei aber alles, was geschieht, in den Horizont der Gottesbeziehung. Die Erfahrungen von Ohnmacht und Isolation, Angst und Zweifel, Verletzlichkeit und „Wüste“ werden so zur Anfrage an Gott und an den eigenen Glauben. Der Glaube verfügt nicht über die Antwort, sondern sucht sie je neu im Ringen mit Gott und Erwarten seiner Antwort.