von Andreas Yezekyan
#Liturgie #Hintergrund #Armenien
Karekin II. Nersissian muss die Augen zusammenkneifen. Die Nachmittagssonne blendet den Katholikos aller Armenier auf der mit weißen Rosen geschmückten Freiluftbühne vor der neu renovierten Kathedrale von Etschmiadsin. Die Edelsteine auf seinen samtroten Gewändern glitzern im Licht. Die spitze Mitra überragt die umstehenden Diakone um mindestens zwei Kopflängen. Vor ihm steht ein großer silberner Behälter, eine bauchige Amphore mit kunstvoll ziselierten Motiven der Heilsgeschichte sowie aus der armenischen Kirchenhistorie. Darin befindet sich duftendes, grünlich schimmerndes Olivenöl, das er gleich weihen wird.
Nur alle sieben Jahre findet in der Armenischen Apostolischen Kirche die feierliche Zeremonie der Myronweihe statt, die allein dem Katholikos aller Armenier vorbehalten ist. Eigentlich wäre es bereits 2022 wieder so weit gewesen. Doch aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzungen mit Aserbaidschan und wegen der Umbauarbeiten in der Kathedrale wurde der Termin verschoben. Am 28. September 2024 nahm Karekin II. schließlich zusammen mit zwölf armenischen Bischöfen aus der ganzen Welt die Myronweihe vor.
Die Verwendung des Myrons in der Armenischen Kirche lässt sich bis in apostolische Zeit zurückverfolgen. Gemäß der kirchlichen Überlieferung brachte der Apostel Thaddäus von Christus gesegnetes Öl zum kranken König Abgar, um ihn von seiner Krankheit zu heilen. Danach begab sich der Apostel in die Region Taron, wo er das Fläschchen mit dem Öl unter einer immergrünen Myrte vergrub. Gregor der Erleuchter soll später an dieser Stelle eine Kirche errichtet haben, die in der armenischen Tradition auch den Namen „Kloster der heiligen Ölflasche“ (Սուրբ Շիշ իւղոյ վանք) trägt. Das Jeghrdut-Kloster liegt heute in der osttürkischen Provinz Muş.