Die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts ungeachtet der Tatsache, dass sie sich, wie alle Zäsuren, lange angebahnt hatten, verkörperten einen beispiellosen Bruch mit der bisherigen europäischen Geschichte. Obwohl uns nun, nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen und nach der Erosion der stalinistischen Schreckensherrschaft, Berge von Archivalien zur Verfügung stehen, sind wir immer noch nicht in der Lage, adäquat die Frage zu beantworten, warum eine Welt entstehen konnte, die viele Zeitzeugen als „Hölle auf Erden“ beschrieben haben, und warum diese „Hölle“ praktisch bis zum Schluss so perfekt funktionierte.
Aber nicht weniger rätselhaft ist ein anderes Phänomen, das kurz nach dem Verschwinden der Hitlerschen und der Stalinschen Tyrannei zu beobachten war. Es handelt sich dabei um die im Westen weit verbreitete Tendenz, Wesensmerkmale der totalitären Regime den Staaten zuzuschreiben, die eindeutig nichttotalitär strukturiert waren.
Besonders verbreitet war der Vergleich der US-amerikanischen Politik mit derjenigen des NS-Regimes. Die Parole „USA-SA-SS“, die viele 68er skandierten, stellt ein Beispiel hierfür dar. Diese Tendenz erlebte in der Zeit der Administration von Bush-Junior eine Renaissance.
Seit den Enthüllungen von Edward Snowden wird indes auch der Nachfolger von George Bush-Junior in eine totalitäre Ecke gedrängt. Die mit recht kritisierte exzessive Ausspähung des Internets durch amerikanische Geheimdienste wird von vielen Medien allen Ernstes mit den Zuständen verglichen, die George Orwell in seiner Anti-Utopie „1984“ entwickelt hatte. Man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass es die totalitären Regime der 1940er Jahre waren, die Orwell als Vorlage für seinen Roman dienten. Und man muss nur stichwortartig in Erinnerung rufen, welche Eigenschaften diese Regime auszeichneten – sie basierten auf uferlosem Terror, grenzenloser Angst, unbeschränkter Willkür, vor allem aber, auf einer totalen propagandistischen Lüge. Die Sklaverei wurde in Freiheit umbenannt, das Laster wurde zur Tugend, die erstickende Bevormundung der Bevölkerung zur grenzenlosen Liebe der Führer zu ihren Untertanen. Und jede Infragestellung dieser Fiktion galt als Sakrileg und wurde brutal bestraft.
Wenn man bedenkt, wie vehement westliche Parlamente, zivilgesellschaftliche Organisationen und Medien (auch die US-amerikanischen) zur Zeit die amerikanischen bzw. britischen Spähaktionen kritisieren, stellt dies ein eindeutiges Indiz dafür dar, wie weit die westlichen Demokratien noch von der Schreckensvision entfernt sind, die Orwell in seinem Buch so anschaulich beschrieben hatte.
In die gleiche Kategorie der inadäquaten Parallelen gehören auch die Versuche, die amerikanischen Geheimdienste mit denjenigen im ehemaligen Ostblock zu vergleichen. Besonders deutlich spiegelt sich diese Tendenz im Artikel des Entdeckers der „Pentagon-Papiere“ Daniel Ellsberg wider, der am 11. Juli 2013 in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel „Die Vereinigte Stasi von Amerika“ erschienen ist. Ellsberg vergleicht hier die amerikanischen Geheimdienste mit dem Ministerium für Staatssicherheit in der stalinistischen DDR und sagt – beide hätten das gleiche Ziel verfolgt, nämlich „alles zu wissen“. Durch diesen Vergleich lässt Ellsberg außer Acht, dass die Stasi als „Schild und Schwert der Partei“ nicht nur „alles wissen“, sondern auch „alles gleichschalten“ wollte. Jede abweichende Meinung betrachtete sie als Staatsverbrechen. Es fehlten in der DDR (ähnlich wie in den anderen totalitären Staaten) auch Kontrollinstanzen jeglicher Art, die imstande gewesen wären, das willkürliche Vorgehen der Geheimdienste einzudämmen. Parlament, Gerichte oder Presse stellten lediglich Marionetten der Partei dar. Lassen sich diese Zustände mit denjenigen in den USA vergleichen, die über ein souveränes Parlament, eine völlig freie Presse und über eine unabhängige Justiz verfügen? Über die Tätigkeit der letzteren berichtete z. B. die Süddeutsche Zeitung vom 13./14. Juli 2013 Folgendes: Im Februar 2012 wurde das „amerikanische ´Department of Homeland Security´ juristisch gezwungen, seine interne Anleitung zur Überwachung von Sozialen Netzen … zu veröffentlichen“.
Wäre ein Gericht in der stalinistischen DDR imstande gewesen, die Stasi dazu zu zwingen, vergleichbare Dokumente zu publizieren? Eine derartige Frage käme jedem Kenner der totalitären Regime nicht einmal in den Sinn. Die Tatsache, dass Ellsberg ungeachtet all dieser Sachverhalte in seinem Artikel zu derart inadäquaten Gleichsetzungen neigt, legt den Schluss nahe, dass ihm der Charakter der totalitären Regime nur wenig vertraut ist.
Abgesehen davon müsste man noch hervorheben, dass der Artikel von Ellsberg, in dem er von der „United Stasi of America“ spricht, ursprünglich in den USA erschienen ist (Washington Post vom 8. Juli 2013). Es versteht sich von selbst, dass eine „echte Stasi“ eine derartige Veröffentlichung niemals zugelassen hätte.
Leonid Luks