von Joachim Braun
#BuchdesMonats #Istanbul #Armenier
„Weit im Norden von Istanbul, dort, wo der Bosporus sich bald zum Schwarzen Meer hin öffnet, begann vor einigen Jahren meine seltsame Reise, die mich kreuz und quer durch Istanbul, die Türkei und die vielen Leben einer Armenierin führen sollte, der ich auf einer frühsommerlichen Gartenparty in Berlin zum ersten Mal begegnet war, dem Willkommensfest für eine weiße türkische Vankatze.“
David Wagners neuer Roman ist ein Abenteuer, das vom Bosporus durch die Türkei und über drei Kontinente führt, eine Spurensuche zwischen Orient und Okzident, tief hinein ins bewegte 20. Jahrhundert. Es ist die Geschichte einer besonderen Freundschaft und einer außergewöhnlichen Frau.
* * *
Vor dem Ersten Weltkrieg wohnten schätzungsweise 160.000 Armenier in Istanbul. Heute gehen die meisten Schätzungen davon aus, das noch etwa 50.000 bis 70.000 Armenier in der Stadt am Bosporus leben. Damit machen die Bolsahayer (Պոլսահայեր), wie die armenischen Bewohner Istanbuls genannt werden, inzwischen mindestens 75 % der gesamten armenischen Minderheit in der Türkei aus, die durch den Völkermord 1915 von 1,5 Millionen auf knapp 70.000 Angehörige sank.
Zu dieser Minderheit zählt auch Verkin, die titelgebende Protagonistin des Romans von David Wagner. Auf einer Gartenparty in Berlin lernt der Erzähler diese schillerende türkisch-armenische Frau kennen. Fortan reist er mehrfach in die Türkei, um sich ihren aufregenden Lebensweg erzählen zu lassen. Gemeinsam fahren die beiden durch Istanbul, sie reisen an die malerische lykische Küste, besuchen verfallene Thermalbäder, rollen im Speisewagen durch Anatolien und kommen bis zum Kreuzkloster auf der Insel Akdamar im Vansee nahe der Grenze zum Iran. Im Gesprächsformat eröffnen sich dem Leser faszinierende Schlaglichter aus der Biographie der Unternehmerin, Jetsetterin, Kultursponsorin und Lokalpolitikerin.
Die knapp 80-jährige Verkin blickt zurück auf ein bewegtes Leben in der armenischen Großbourgeoisie. Nach den traumatischen Erlebnissen des Vökermords hatte ihr Vater den größten Elektrokonzern der Türkei aufgebaut. So war die Familie zu enormem Reichtum gelangt. Verkin erzählt von ihrer Jugend im Schweizer Nobelinternat, von den Studentenprotesten 1968 in Paris, von lukrativen Geschäften in der DDR und von Künstlerkreisen im New York der 70er-Jahre. Sie verkehrt in der High Society: Greta Garbo, Yoko Ono, Andy Warhol und Jackie Kennedy gehören zu ihren Bekanntschaften. Ohne Veschnaufpause geht es weiter zu kolumbianischen Drogengeschäften und indischen Gurus. Ihre Geschichten klingen manchmal unglaublich, fast wie aus „Tausendundeiner Nacht“. Führt sie ihren Gesprächspartner und damit auch uns Leser an der Nase herum?
Verkin berichtet von ihrem Einsatz für das armenische Kulturerbe in der Türkei, für die verfallenden armenischen Kirchen rund um den Vansee und die vernachlässigten Ruinen der alten armenischen Hauptstadt Ani nahe der türkisch-armenischen Grenze. Außerdem erzählt sie von ihrer besonderen Freundschaft zum armenischen Patriarchen von Konstantinopel, Mesrop Mutafyan (1956–2019). So erfährt der Leser viel über die Geschichte der Armenier in Istanbul während des 20. Jahrhunderts.
Als Verkin und der Autor einmal den Bosporus mit einer Fähre überqueren, sagt er zu ihr: „Unsere Fährfahrt ist eine Erinnungsfahrt, einmal durchs Leben, Verkin. Und durch das Leben davor. Und durch dreitausend Jahre Stadtgeschichte am Bosporus.“ So ist David Wagners neuestes Werk eine Erinnerungsfahrt durch das bewegte Leben der einflussreichen armenischen Oberschicht in Istanbul.
* * *
David Wagner
Verkin
399 Seiten
26,00 €
ISBN: 978-3-498-00224-4