„Der Schutz des menschlichen Lebens ist absolut“

Im Rahmen des Corona-Forums, für das die KU mit dem Donaukurier kooperiert, antwortet Prof. Dr. Walter Schweidler (Lehrstuhl für Philosophie) auf die Frage, ob der Schutz von Menschenleben und Wirtschaftswachstum gegeneinander abgewogen werden können. Im Forum werden Fragen von Leserinnen und Lesern zur Corona-Pandemie aufgegriffen und von Expertinnen und Experten der Katholischen Universität beantwortet.

Herr Schweidler, in dieser Woche wurde beraten, ab wann die Schließung von Schulen oder Einzelhandel gelockert werden kann. Solche Entscheidungen setzen vielfältige Abwägungen voraus. Lassen sich Menschenleben und Wirtschaftswachstum gegeneinander abwägen?

Walter Schweidler: Der Schutz von Menschenleben ist in jedem Fall absolut zu respektieren. Es gehört daher zur politischen Verantwortung, zu garantieren, dass Ärzte und Ärztinnen ihrer Verpflichtung zum Schutz und zur Bewahrung des menschlichen Lebens nachkommen können. Solange nicht Leben gegen Leben steht, gibt es hier nichts abzuwägen. Sollte es aber dazu kommen, dass ein Arzt ein Leben für ein anderes aufgeben muss, lassen sich dafür keine allgemeinen Richtlinien angeben. Die Verantwortung für diese sehr schwierigen Entscheidungen liegt bei den behandelnden Ärzten. Umso mehr muss die Politik dafür sorgen, dass solche Situationen nicht entstehen.

Gibt es dann überhaupt noch Spielräume für politische Entscheidungen?
Der Politik werden ja nicht alle Fragen abgenommen. Zunächst gilt natürlich der unbedingte Schutz des menschlichen Lebens. Wenn dieser gesichert ist, sind in einem zweiten Schritt auch Abwägungen möglich. Dabei dürfen Politikerinnen und Politiker nicht nur die Sicht der Ärzte einnehmen, sondern müssen auch die Sicht von Bürgern oder Unternehmern berücksichtigen. Es gilt ja, das Funktionieren unserer Gesellschaft zu gewährleisten und die Wirtschaft vor einem Zusammenbruch zu bewahren.

Die weitreichenden Folgen des Corona-Ausbruchs waren zu Beginn nicht absehbar. Wie lassen sich die Risiken in einer solchen Situation angemessen abwägen?
Letztlich können wir nur nach vergleichbaren Situationen suchen. Hier zeigt sich, welche gesundheitlichen Risiken in anderen Ländern wie in Italien oder den USA bestehen. Ausgehend davon können wir einschätzen, wie hoch das Risiko in Deutschland ist, oder ob es gute Gründe dafür gibt, die Risiken bei uns anders zu gewichten. Die öffentliche Diskussion konzentriert sich derzeit sehr stark auf die Todesfälle. Andere Risiken müssen aber auch berücksichtigt werden. Etwa die Gesundheitsgefährdung für das Pflegepersonal. Auch diejenigen, die in den Krankenhäusern arbeiten, haben ein Recht auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit.

Vielfach wird kritisiert, dass die getroffenen Entscheidungen als alternativlos dargestellt werden. Hätte man auch anders entscheiden können?
Die entscheidende Frage für mich ist nicht, ob es Alternativen gibt. Vielmehr müssen wir uns fragen: Ist die Situation berechenbar? Welche Sicherheiten gibt es? In der philosophischen Ethik unterscheiden wir dazu zwei Positionen – den Tutiorismus und den Laxismus. Der Tutiorismus sagt: Erlaubt ist nur das, was sicher nicht schadet. Der Laxismus sagt: Erlaubt ist auch das, wovon wir nicht sicher wissen, ob es schadet. Jetzt, da wir mit einer weltweiten Pandemie konfrontiert sind, muss eine tutioristische Grundhaltung leitend sein. Wenn grundlegende Zweifel bestehen, müssen wir uns für den sicheren Weg entscheiden. Erst nach und nach, wenn wir ein besseres Verständnis der Situation erlangen, können wir überlegen, ob wir Schulen oder Geschäfte wieder öffnen.

Die Entscheidungen der letzten Monate haben dazu geführt, dass das öffentlichen Leben stark eingeschränkt wurde. Wie angemessen sind diese Einschränkungen?
Vor einigen Tagen wurden Menschen daran gehindert, in ihr Ferienhaus zu fahren. Obwohl keine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben bestand. Das ist natürlich ein Eingriff in das Grundrecht auf Eigentum. Auch die Freizügigkeit ist stark eingeschränkt. Diese Einschränkungen erscheinen mir unverhältnismäßig. Zudem ist es dringend notwendig, eine gesetzliche Grundlage für diese Eingriffe zu schaffen. In unsere Grundrechte darf nur per Gesetz eingegriffen werden. Das Regieren mit Dekreten, wie wir es aktuell erleben, ist dafür nicht ausreichend. Grundrechte können nicht durch Mehrheitsentscheidungen verändert werden.

Hätten diese Einschränkungen denn ausbleiben können, wenn der Staat eine bessere Vorsorge getroffen hätte?
Der Staat lässt sich für die aktuelle Situation kaum verantwortlich machen. Kein Land auf der Erde hatte, soweit ich sehe, adäquat vorgesorgt. Alle waren durch das Ausmaß der Pandemie in der Kürze der Zeit überrascht. Solche Situationen sind kaum vorhersehbar. Die Verantwortung liegt daher eher auf der Ebene der staatlichen Haushaltsführung. Entscheidend ist, ob es Staaten gelingt, ihre Haushalte so zu gestalten, dass sie auf unvorhergesehene Situationen schnell reagieren können. Hier gibt es durchaus Unterschiede. Unverantwortlich war und ist ungebremste Schuldenmacherei auf der Ebene nationaler Regierungen und ihre Unterstützung auf der Ebene der Zentralbanken.

Ist es denn richtig, die Verantwortung nur auf staatlicher Seite zu suchen. Sind nicht auch die Unternehmen in der Verantwortung?
Ja. Die gegenwärtige Logik der Wirtschaft zeigt manche Tendenzen einer Verantwortungslosigkeit. Die permanente Steigerung der Effizienz und die Reduktion der Kosten haben dazu geführt, dass die Produktion zum Beispiel von Schutzmasken nach China verlagert wurde. Dadurch entstehen Abhängigkeiten. In einer Krise fehlt es dann an Flexibilität. Wir müssen daher wieder zu einer Überschaubarkeit der Wege von der Produktion zum Produkt kommen. Lieferketten können nicht allein nach Gesichtspunkten der Kostenminimierung organisiert werden. Es ist kein Klischee, wenn man darauf hinweist, dass hier nicht einer Logik der totalen Globalisierung gehorcht werden darf. Wichtig ist vielmehr, die Herrschaft über die Gestaltung unserer Lebensressourcen zu bewahren.

Das Gespräch führte Thomas Metten.

Prof. Dr. Walter Schweidler ist Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. In seiner Forschung beschäftigt er sich unter anderem mit Fragen der angewandten Ethik in der Biomedizin und der Würde des Menschen.