Die jüdische Siedlungsgeschichte Bayerns digital erkunden

Versucht man, einen Überblick zur jüdischen Geschichte für das Bayern der Vormoderne zu erhalten, so bietet sich eine chaotisch erscheinende Chronologie von Ansiedlung, Vertreibung und Wiederansiedlung. Einen systematischen Einblick in die Siedlungsgeschichte der Juden auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Bayern eröffnet eine neue digitale Karte, die von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der KU erarbeitet wurde. Die Sammlung und Aufbereitung der Daten ist in dieser Form bislang einzigartig und beruht auf dem langfristig angelegten Projekt „Jüdische Geschichte in Räumen“ der Professur für Frühe Neuzeit und Vergleichende Landesgeschichte, das in zeitaufwändiger Detailarbeit eine Vielzahl von Quellen erschließt und die gewonnenen Erkenntnisse in einer Datenbank zusammenträgt.

Bislang wurden Informationen zu fast 600 Siedlungen erfasst, die nachweislich zwischen 1500 und 1820 über mindestens fünf Jahre hinweg existierten. Der Zeitraum ist bewusst gewählt und dokumentiert die Phase von den Anfängen des Landjudentums bis zur Neufassung der Judenpolitik im Königreich Bayern. „Jüdische Siedlungsformen dokumentieren mehr als nur die Fakten der Bevölkerungsdichte. Sie erlauben auch Aussagen zur wechselhaften Judenpolitik der jeweiligen Obrigkeiten“, erklärt Projektleiterin Prof. Dr. Sabine Ullmann. Die Geschichte Bayerns sei durch die Präsenz zahlreicher jüdischer Gemeinden wesentlich geprägt worden. Daran gelte es gerade anlässlich des Jubiläumsjahres „321 – 2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ zu erinnern. Gefördert wurde das Projekt durch die „Forschungsstiftung Bayerische Geschichte“.

Die frei zugängliche interaktive Karte ist in Kooperation mit Kartographin Claudia Pietsch vom Fachbereich Geographie an der KU entstanden. Sie gibt sowohl der interessierten Öffentlichkeit als auch dem Fachpublikum die Möglichkeit, Zusammenhänge zwischen jüdischen und nichtjüdischen Räumen zu erschließen, und bietet neue Ansatzpunkte für die weitere Forschung. Beim Klick auf einen Ort erscheinen neben Basisinformationen – wie dem Ortsnamen, dem heutigen Landkreis und Regierungsbezirk und geographische Koordinaten – auf Grundlage der bisherigen Forschung auch spezifischere Angaben zu Schutzherrschaften, Siedlungstypen, etwaigen Ausweisungen sowie Hinweise auf die Forschungsliteratur. Außerdem wurden erstmals die bayernweiten Daten aus der statistischen Bevölkerungserhebung des Königreichs Bayern vom Beginn des 19. Jahrhunderts – der sogenannten Montgelas-Erhebung – hinsichtlich der jüdischen Bevölkerung ausgewertet und in die Ortstabellen integriert. Zusätzlich aufgenommen sind 85 in der Frühen Neuzeit existente jüdische Friedhöfe.

Spätestens in Folge des Nationalsozialismus sind die meisten historischen Unterlagen zum jüdischen Gemeindeleben verloren gegangen, was die Recherche zur Siedlungsgeschichte zusätzlich erschwert. Neben bestehender wissenschaftlicher Literatur zu jüdischen Gemeinden sichten die Forschenden daher unter anderem auch den Münchner Bestand der Reichskammergerichtsakten. „Darin finden wir etwa durch Angaben zu Einzelpersonen, die Teil eines Gerichtsverfahrens waren, neue Hinweise auf Orte mit jüdischen Siedlungen“, erklärt Oliver Sowa als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Professur. Aber auch Auseinandersetzungen zu hoheitsrechtlichen Konflikten, wie sie etwa die Wiener Reichshofratsakten abbilden, liefern Anknüpfungspunkte für die Forschung. Denn seit dem Mittelalter konnten sich Juden gegen Bezahlung unter den Schutz der jeweils vor Ort herrschenden Obrigkeit stellen lassen. Dieses sogenannte Judenregal war dabei nicht nur eine Einnahmequelle, um die Territorien miteinander konkurrierten. Die Ansiedlung und Besteuerung von Juden konnte zu einer politischen Statusfrage aufgeladen und im Streit um Hoheitsrechte entsprechend instrumentalisiert werden – vor allem in kleinteiligen Herrschaftsräumen wie in Franken oder Schwaben sowie Teilen der Oberpfalz.

Dies spiegelt sich auch beim ersten Blick auf die digitale Karte des Projektes sofort wider: Die meisten Siedlungen sind in Franken und Schwaben verzeichnet, während das heutige Ober- und Niederbayern fast keine Ortschaften mit jüdischer Bevölkerung im Zeitraum von 1500 bis 1820 aufweisen. Hintergrund dafür ist, dass Herzog Albrecht III. 1442 die Juden aus seinem Herzogtum Bayern-München auswies, acht Jahre später wurden sie auch vom niederbayerischen Herzog Ludwig IX. vertrieben. Ab dem 17. Jahrhundert war es Juden zudem offiziell verboten, durch Bayern zu reisen. Einher ging zu Beginn damit ein Wandel von Städten als Siedlungsgebiet hin zum Judentum auf dem Land, der sich über lange Zeit manifestierte und auch in der Karte zeigt.

Neben Siedlungen verzeichnet das Online-Portal auch Friedhöfe. Denn die jüdische Bevölkerung war vielfach gezwungen, Friedhöfe gemeindeübergreifend zu nutzen. Diese Gebietsfriedhöfe und die ihnen zugeordneten Gemeinden bzw. Siedlungen bildeten einen jüdisch-kultischen Raum, der über die politisch-herrschaftlichen Grenzen hinausging. Die Karte bietet auch Einblick in diese ortübergreifenden Verbindungen.

Die Arbeit an Datenbank und digitaler Karte sind längst nicht abgeschlossen. „Wir schaffen eine Grundlage für die weitere Erforschung der Siedlungsgeschichte. Aber es ist noch viel weitere Arbeit erforderlich, um Lücken zu einzelnen Ortschaften zu füllen“, betont Professorin Sabine Ullmann. Die Nutzerinnen und Nutzer sind daher eingeladen, ihre eigenen Befunde den Forschenden mitzuteilen.

Informationen zum Projekt und die digitale Karte finden sich unter www.ku.de/juedische-geschichte.