Als eine Person, die in ihrer Funktion „Zukunftsperspektiven geprägt hat“, wie KU-Präsident Professor Richard Schenk in seinem Grußwort sagte, rief der ehemalige Kanzleramtschef die damaligen politischen Rahmenbedingungen in Erinnerung. Zwar sei die Wiedervereinigung ohne die Arbeiterbewegung in Polen, die späteren Massenproteste in der DDR oder das politische Tauwetter unter Gorbatschow nie denkbar gewesen. „Und wir haben auch viel Glück gehabt, was Grund ist, um bescheiden und demütig zu sein“, so Seiters. Jedoch sei die Wiedervereinigung den damaligen Akteuren nicht in den Schoß gefallen. Viel habe auch auf gewachsenen Beziehungen und Vertrauen zwischen den politischen Entscheidungsträgern in West und Ost basiert. So kündigte die ungarische Regierung bei einem Geheimtreffen mit Helmut Kohl im Sommer 1989 an, im September die Grenze zu Österreich öffnen zu wollen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich in der Tschechoslowakei bereits zahlreiche DDR-Bürger in die Prager Botschaft der Bundesrepublik geflüchtet. Nach dem Treffen habe Kohl mit Gorbatschow telefoniert und ihn gefragt, wie die Sowjetunion im Falle einer Grenzöffnung durch Ungarn reagieren würde. Nach einem Moment der Stille habe Gorbatschow geantwortet: „Die Ungarn sind gute Menschen.“ Wie sehr die DDR-Führung bis zuletzt ihren Autoritätsverfall nicht realisiert habe, zeige sich auch in Honeckers Haltung, die Einwilligung der Ausreise von Flüchtlingen aus der Prager Botschaft als „einmalige humanitäre Hilfe“ zu verstehen. Wie als Beleg für die Hilflosigkeit der ostdeutschen Regierung habe sich die Prager Botschaft umgehend wieder mit Flüchtlingen gefüllt. „Es waren die Menschen, die den schnellen Weg zur Wiedervereinigung wollten“, so Rudolf Seiters im Hinblick auf die Frage, ob die deutsche Einheit zu schnell erfolgte. Zudem habe im Nachhinein der Mantel der Geschichte nur ein Weilchen geweht; ein paar Jahre später wären die politischen Rahmenbedingungen ungleich schwieriger gewesen. Dennoch habe man nach dem Mauerfall auf dem Weg zur Einheit gegen Widerstände vor allem der europäischen Nachbarn kämpfen müssen: „Eine damals weit verbreitete Stimmung im europäischen Ausland war, man liebe Deutschland so sehr, dass man gerne zwei davon habe.“ Sowohl innerhalb als auch außerhalb hätten sich viele damals mit dem geteilten Deutschland abgefunden gehabt und höchstens auf eine Demokratisierung der DDR gedrungen.
Was wurde aus den versprochenen „blühenden Landschaften“ und wann wird die innere Einheit erreicht sein? „Es wäre ein Wunder, wenn nicht auch Fehler passiert wären. Vieles musste innerhalb kurzer Zeit gleichzeitig geregelt werden – vom Aufbau einer Kommunalverwaltung über den Umgang mit Stasiakten bis hin zur Rückführung der Sowjetarmee“, schilderte Seiters. Eine absolute Gleichheit der Lebensverhältnisse könne es, so Seiters, innerhalb Deutschlands nie geben – wobei dies auch für die Bundesländer untereinander gelte. Zudem müsse man sich bewusst machen, dass man es eigentlich nicht mit den Folgen der Wiedervereinigung zu tun habe, sondern mit den Folgen der vierzigjährigen Teilung. „Nicht überall gibt es blühende Landschaften, aber die positiven Veränderungen sind spektakulär“, so Seiters. Die größte Errungenschaft bleibe die Freiheit von einem Unrechtsstaat, der seine Bürger mit Selbstschussanlagen und Soldaten am Verlassen gehindert habe. Hinsichtlich der inneren Einheit verwies Seiters auf eine Umfrage unter 18- bis 25-Jährigen: „91 Prozent der Befragten sahen sich selbst weder als Ost- noch Westdeutsche, sondern einfach als Deutsche.“
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