Christian Kern promovierte nach seinem Theologie-Studium an den Universitäten Würzburg und Rom zum Thema "Scheitern Raum geben - Theologie für eine postsouveräne Gegenwartskultur" an der Paris-Lodron-University Salzburg, Österreich. Nebenberuflich strebt er zudem einen Abschluss M.A. in Politischer Theorie an der Goethe-Universität Frankfurt an. Seit Juni 2023 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter/Akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl für Pastoraltheologie an der Universität Münster. Seit April 2024 ist er nun assoziiertes Mitglied im ZRKG, Forschungsfeld III. Im nachfolgenden Interview stellt er sich und seine Forschungsschwerpunkte näher vor.
ZRKG: An welchem (Forschungs-)Projekt arbeiten Sie gerade?
Kern: In meiner theologischen Arbeit interessiere ich mich für performative Praktiken im öffentlichen Raum. Ich analysiere wie darin politische Debatten und darstellerische Praktiken mit religiösen Dimensionen verbunden werden. Beispiele dafür sind öffentliche Interventionen und Protestaktionen von Künstlergruppen (wie dem Centre for Political Beauty), subversive Tänze und Choreographien von marginalisierten Gruppen, die sich Körperregimen und politischen Regulaturen öffentlicher Erscheinungsformen widersetzen (wie im Iran im Mai 2022) oder Protestaktivitäten von ökologischen Bewegungen (wie Letzte Generation).
Meine Hypothese ist, dass in diesen performatischen Interventionen andere Formen von Körperlichkeit in Anspruch genommen werden und sich heteromorphe Lebensweisen anfanghaft inkarnieren, die auf ihre rechtliche, ökonomische, ökologische Realisierung hindrängen. Akteur*innen widersetzen sich bisherigen Verwerfungen und antizipieren performativ transformierte Bedingungen für die Lebbarkeit dieses anderen Lebens. Dabei sind diese performatischen Praktiken nicht frei von Ambivalenz, weil auch sie Favorisierungen und Ein-/Ausblendungen produzieren. Eventuell hat man es in diesen Formen, mit einer impliziten oder expliziten Form quasi-säkularer Sakramentalität zu tun: mit wirksamen Zeichen einer bereits angebrochenen, wirklichen Lebensmöglichkeit, die auf eine politische Realisierung hindrängt.
Diese Arbeit rund um Polito-Performatik mache ich nicht alleine, sondern zusammen mit einem Netzwerk von jungen, internationalen Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen aus Theologie, Performance Studies, Religionswissenschaft, Philosophie und pastoraler Arbeit. Wir bilden gemeinsam seit März 2024 das DFG Netzwerk „Postsecular Performances“. In mehreren Arbeitstreffen bis 2026 diskutieren wir performatische Praktiken in ausgewählten Kontexten und arbeiten u. a. auf eine gemeinsame Publikation hin, in der eine kritische Typologie entwickelt wird, wie durch performatische Praktiken Machtverhältnisse gestaltet werden.
Diesem Forschungsinteresse gehe ich darüber hinaus in meinem Habilitationsprojekt nach. Ich entwickle einen begrifflichen Rahmen und eine Vorgehensweise, wie sich öffentliche performatische Praktiken verstehen sowie analysieren lassen und arbeite auf einen eigenen performanzkritischen Ansatz für Theologie hin. Zentral ist dabei der Aspekt der „Heteromorphie“. Darunter verstehe ich ereignishaft aufbrechende Andersformen von Leben, in denen sich neue Lebensmöglichkeiten erschließen. Als heteromorphe, ereignishafte Erfahrung haben sie etwas Unverfügbares, nicht-abschließend Bestimmbares, das zugleich Kreativität und Kritik an bestehenden Machtstrukturen und ihren Verwerfungen freisetzt. Eventuell ist dieses Ereignishaft-Unverfügbare, das sich auch in den oben beschriebenen performatischen Praktiken manchmal erahnen lässt, der Moment, in dem sich das Befreiend-Politische und das Theologische, das Religiöse und das Gesellschaftlich-Transformative ungetrennt und unvermischt berühren.
ZRKG: Wie sind Sie zu diesem Themenkomplex gekommen? Hat es so etwas wie einen starken Impuls, ein zentrales Motiv gegeben?
Kern: Öffentliche performatische Formen haben für mich auf einer subjektiven Ebene eine eigene Faszination, sie sind oft von sehr viel Mut und kritischem Geist erfüllt, der sehr reflektiert sein kann. Sie gehen außerdem, gerade wenn sie prozessorientiert verlaufen, Bewegungen ins Offene ein und können zu exposure-Erfahrungen werden. In ihnen bündeln sich auch gesellschaftliche Kräfte, die konstruktiv wie auch destruktiv sein können. Es geht ja um Wirkungen gesellschaftlicher Macht, die sich auch zu Gewalt verdichten können. Ich glaube, dass es gesellschaftlich gut ist, wenn es intellektuelle tools zur Reflexion, Analyse und Gestaltung von solchen performativen Dynamiken gibt, und ich möchte gerne dazu beitragen, dazu etwas zu entwickeln. Das betrifft in einer theologischen Perspektive übrigens auch „Kirche“, die ich als eine ebenso hoch ambivalente und zu problematisierende „Performance“ im öffentlichen Raum sehe, in der sich religiöse Bezüge und politische Dynamiken miteinander verbinden und zu spezifischen, auch asymmetrischen Machtverhältnissen gerinnen.
Eine zweite Motivation kommt aus meiner theologischen Biographie. Ich nehme Theologie (wenigstens im deutschsprachigen und europäischen Raum) oft als eine Disziplin war, die Themen der kirchlichen Religionsgemeinschaft ad intra, mit einer Binnenperspektive reflektiert und die Wende nach außen ins Gesellschaftliche vergisst. Es gibt aber gerade in diesem „Außen“-Bereich ganz viel implizite und explizite Theologie und quasi-religiöse Dynamiken, und es motiviert mich, mit einem performanzkritischen Ansatz etwas zur Diskussion und Gestaltung dieser public theologies beizutragen.
ZRKG: Was motiviert Sie, einem interdisziplinären Forschungszentrum beizutreten? Gibt es Themen, die Ihnen dabei besonders wichtig sind?
Kern: Als Mensch und als wissenschaftlich arbeitender Theologe schmore ich immer auch im eigenen Topf, habe eine eigene Sprache und einen Denkrahmen, der mich routiniert begleitet und der den Blick auch unbewusst einengt. Deshalb finde ich interdisziplinäre Prozesse total interessant: meine eigenen Vorstellungswelten und Sprachen werden von außen gespiegelt, sie werden herausgefordert und erscheinen in anderem Licht, so dass ich umdenken muss und vor allem auch weiterdenken kann. Diese Differenzerfahrung und Relativierung meiner eigenen Perspektiven und Positionen kann inspirierend sein, aus solchen Differenzen kann kreativ Neues entstehen und wird mein eigenes Denken offener. Vielleicht kann ich auch Anderen solche differenzierenden Verschiebungen in einem Forschungszentrum anbieten und ins wechselseitige Gespräch kommen. Das motiviert mich auf einer grundlegenden Ebene, im ZGRK mit dabei zu sein. In thematischer Hinsicht wichtig sind mir v. a. Schnittstellen zwischen öffentlicher Religiosität, Spiritualität, Ritualität und politischer Reflexion.
ZRKG: Gibt es eine Disziplin neben Ihrem Fach, der Sie sich besonders verbunden fühlen? Und wenn ja – warum?
Kern: Dazu zählen zwei. Zum einen der ganze Theoriebereich der critical theory, nicht nur die Kritische Theorie in der Prägung der Frankfurter Schule, sondern auch die französischen Variationen eines solchen Denkens, wie es sich etwa bei Michel Foucault, Jacques Derrida oder Judith Butler zeigt. Die kann ich für meine Reflexion über „Performanz“, „Performanzkritik“ und „Ereignishaftigkeit“ gut gebrauchen. Von dort ergeben sich auch mögliche Ausflüge ins Feld der „performance studies“, das ja auch im erwähnten DFG Netzwerk Postsecular Performances präsent ist, etwa zu Leuten wie Diana Taylor oder Anna Pellegrini von der New York Tisch School of the Arts.
Drittens auch zum Feld (radikal-)demokratischer politischer Theorie, etwa bei Étienne Balibar, Alain Badiou oder Catherine Colliot-Thélène. Dort gibt es eine große Sensibilität für aufbrechende Differenzen, die etwas Ereignishaftes haben, das Kräfteverhältnisse verschiebt und einen (verheißungsvollen?) Raum des demokratischen Engagements öffnet, der von Gleichheit, Freiheit und Solidarität erfüllt werden kann.
ZRKG: Vielen DANK für das Gespräch!