Einhundertvierzig Seiten, prall gefüllt mit süffisanten Seitenhieben auf und bissigen Beschreibungen von Professoren, Dozenten, Pressesprechern und dem übrigen Inventar einer Elitehochschule namens Sommerstadt, die aufmerksame Leser augenblicklich ins Badische verorten. Außerhalb von Freiburg, so sollte man meinen, ist das Romanprojekt zum Scheitern verdammt. Immerhin sind Ähnlichkeiten zu lebenden Personen, so ist auf dem Umschlag zu lesen, beabsichtigt. Aber das Experiment war erfolgreich – und Michelle verbreitete sich auf dem Freiburger Universitätsgelände per Mundpropaganda rasant, die Erstauflage schnell vergriffen, die öffentliche Lesung von Annette Pehnt bis auf den letzten Platz besetzt. Schon bald musste die Textmission nachdrucken. Friedemann Holder ist zufrieden: „Es wird selten über Gerechtigkeit gegenüber Büchern gesprochen. Es ist ein Riesenunterschied, ob ein Buch in einer Schublage liegenbleibt oder ein Kopfkino in tausenden Gehirnen erzeugt.“
Die Verwirklichung solcher Buchprojekte ist Bestandteil einer Bewegung, die derzeit den Buchmarkt leise aufmischt – eine kleine Buchrevolution von unten, die durch die unkomplizierten „Do-it-yourself“-Buchverlagsangebote im Internet befördert wird. Und mit der eigenen „Text-Mission“, ganz ohne großen Verlag mit Marketing-Abteilung und hauptamtlichen Lektorat im Rücken, lassen sich die Marktregeln des offenbar nur scheinbar starren Buchmarktes aushebeln – und ein Buch wie „Jetzt kommt Michelle“ findet seine letzte Ruhestätte eben doch nicht in einer dunklen Schublade als verstaubtes Manuskript und papiernes Opfer der Bestseller-Verwertungslogik. Trotzdem können sich auch die Text-Missionierer um Friedemann Holder nicht völlig von den Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie befreien – ihr Projekt funktioniert praktisch wie ein eigener kleiner Verlag. Das Michelle-Manuskript wird zweimal gegengelesen, Fotos müssen aufgenommen, das Buch in mühevoller Kleinarbeit gelayoutet werden. Und nicht zuletzt bedeutet der Druck einer Kleinstauflage von fünfzig Büchern auch ein finanzielles Risiko.
Und die Universität, so glaubt Friedemann Holder, erscheint im Campusroman längst nicht mehr als entfernter Elfenbeinturm, sondern als Abbild der Gesellschaft. So verstehen Holder und seine Mitstreiter das erste „Kind“ der Textmission auch als beißende Kritik an der Hochschullandschaft, die kaputt gespart wird und ihre Insassen – auf beiden Seiten des Hörsaals – in den Wahnsinn treibt. Die drei Module, durch die sich Michelle im Laufe ihres ersten (Buch)-Semesters kämpft, keinesfalls Spezialitäten von Sommerstadt, sondern in jeder Studentenstadt anzutreffen - genauso wie das „Inventar“ der Eliteuniversität: Der weise, aber auch greise Professor mit einer Vorliebe für walisische Frikative im 17. und 18. Jahrhundert zwischen Oralität und Literalität und einer Abneigung gegen E-Mails und Jacketknöpfe. Oder der leidenschaftliche Keltologe, der sein Büro räumen muss, damit hier künftig ein Psychologe die ganzen gestrandeten Erstsemester-Seelen zurück ins Uni-Leben motivieren kann.
Experimental-Verleger Friedemann Holder schaut sich bereits nach neuen Kindern für die „Text-Mission“ um. Die Suche könnte allerdings schwierig werden: „Schrott wollen wir nicht“, stellt Holder klar. „Nur wenige richtig gute Autoren trauen sich, ihr Buch über eine Initiative zu veröffentlichen.“ Denn Schriftsteller werden meist erst in Verbindung mit renommierten Verlagen zur wiedererkennbaren Marke – und das Experiment mit einem unbekannten Verlegerprojekt könnte, so zumindest die Sorge vieler Autoren, die Marke ruinieren.