Hitzler fragte am Anfang, wie man denn eigentlich ein gutes Schulsystem bekomme. Drei Punkte seien von herausragender Bedeutung: die „richtigen“ Leute für den Lehrerberuf auswählen, diese Studierenden zu unterstützen, zu „erfolgreichen“ Lehrenden zu werden und sicher zu stellen, dass das Schulsystem für jedes Kind den bestmöglichen Unterricht bieten könne. Im mit 17 Einwohner pro Quadratkilometer sehr dünn besiedelten Finnland leben 5,2 Millionen Einwohner, von denen immerhin 74,6 Prozent die Hochschul- bzw. Fachhochschulreife Hochschulabschluss vorweisen können Seit jenem ominösen 4.Dezember 2001 nun ist Finnland zum Bildungs-Pilgerland geworden, vor allem für deutsche Schulpädagogen und Bildungspolitiker, die sich angesichts der frappierenden Erfolge des dortigen Systems Erfolge für das eigene Bildungswesen erhoffen. Dabei wollen Politiker, egal welcher Couleur, immer schnell Ergebnisse sehen, meist auf Kosten der Evidenz. In Finnland setzt man stark auf Evaluation der einzelnen Schulen. Nicht zuletzt deshalb wurde Mitte der 90-er Jahre die staatliche Schulaufsicht abgeschafft und das FNBE gegründet, eine Institution, die verantwortlich ist für die Weiterentwicklung des Bildungswesens und Bildungsforscher und Praktiker zusammenführt.
Das heißt aber noch lange nicht, dass Finnland ein „Schulparadies“ ist. Das finnische Bildungssystem ist durchaus leistungsorientiert, es gibt laut Hitzler sogar noch viel mehr Frontalunterricht als hierzulande. Von „Kuschelschule“ könne da gar keine Rede sein. Während in Deutschland die Kinder nach der vierten Klasse selektiert werden, bleiben sie in Finnland bis zur 9. Klasse in einer integrierten Gesamtschule zusammen. Und das offensichtlich mit großem Erfolg, wie die Besucher des Vortrags im vollbesetzten großen Hörsaal der Universität erfuhren. Aber, und das ist eben der wesentliche Unterschied, in der finnischen Grundschule fällt kein Kind durch das Raster. Die individuelle Förderung steht an oberster Stelle aller Schulideologie. Zwar gibt es auch Noten, sitzen bleiben muss deswegen aber kein Kind. Bereits 1972 begann in Finnland die Umstellung auf das eingliedrige Schulsystem. Seitdem wurde dieses zwar weiterentwickelt, das Grundprinzip hat sich aber nicht verändert: Alle Kinder werden von der 1. bis zur 9. Klasse in einer Regelschule unterrichtet, sie werden nicht selektiert. Damit erfüllt Finnland eine für Hitzler sehr wichtige Anforderung: Das Schulsystem ist „verlässlich“. In Deutschland mit 16 unterschiedlichen Ansätzen in den einzelnen Bundesländern und insgesamt über 300 Schulmodellen sei dies ganz und gar nicht der Fall.
Die einzige Möglichkeit die Resultate (Qualität) zu verbessern, ist den Unterricht zu verbessern . Denn nur dann kann sicher gestellt werden, dass das Schulsystem den bestmöglichen Unterricht für jedes Kind gewährleisten kann und dass das Schulsystem hohe Anforderungen an die Schüler stellen kann, die diese auch bewältigen können. In der finnischen Regelschule kümmert sich ein ganzer Stab um die Kinder. Schulpsychologen, Sozialpädagogen, Schulassistenten, Laufbahnberater und Krankenschwestern gehören zum Team einer Schule. So können sich die Lehrer auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren: dem Unterricht. Für Hitzler ist es aber ganz selbstverständlich, dass sich die Schule über die reine Wissensvermittlung hinaus um das Wohl der Kinder kümmert. Das werde in ganz Skandinavien so gesehen. Die Schule ist erster Ansprechpartner für die Kinder, hier könnte Fehlentwicklungen am schnellsten gegen gesteuert werden und notfalls wird das auch gegen den Willen der Eltern getan.
Eine Ministerialbürokratie, die Schulleitung und Lehrer mit Regelwerken überschüttet, ist den Finnen ebenfalls fremd. Jede Kommune kann diese Richtlinien ihrer eigenen Schule anpassen, dem Kollegium in der Schule bleibt dann aber immer noch viel Gestaltungsraum. Der Staat fordert laut Hitzler lediglich bestimmte Mindestleistungen. Wie die Schulen das erreichen, wird den Fachkräften vor Ort überlassen. Schulautonomie heißt das große Schlagwort Natürlich fließt in die finnischen Schulen mehr Geld als in Deutschland. Aber insgesamt kostet das Schulwesen dort nicht mehr als hier. Denn der vorhandene Etat geht direkt an die Lehranstalten und bleibt nicht in einem „übergeordneten Beamtenapparat“ hängen. Die Verwaltungskosten sind in Finnland 60 Prozent niedriger als hierzulande. In Finnland hat man die Verhältnisse umgekehrt: Nicht die Kinder sind verpflichtet, die Schule zu besuchen. Vielmehr haben sie ein Anrecht auf Bildung. Außerdem können die Eltern völlig frei wählen, in welche Schule sie ihr Kind schicken möchten. Das fördert den Wettstreit der Einrichtungen – und sichert so die Qualität. Die Lehrer sind übrigens nicht verbeamtet.
Natürlich ist Finnland deshalb noch lange nicht frei von jeglichen Problemen. Im Gegenteil, Drogen – und vor allem Alkoholkonsum bei Jugendlichen gibt es mindestens in dem Maß wie in Deutschland. Auch Magersucht, Bulimie und ähnliches sind kein unbekanntes Phänomen. Aber – und das ist für Rode der entscheidende Unterschied – die Kinder und Jugendlichen, die von diesen Problemen betroffen seien, erhalten dennoch die Möglichkeit, den gleiche Schulabschluss zu machen wie alle anderen. In Finnland wird niemand aussortiert.
Edgar Mayer/CSS, Kontakt