Erin Litteken: „Denk ich an Kiew“

von Joachim Braun

#BuchdesMonats #Ukraine #Holodomor

1929. Behütet und geliebt wächst Katja in einem Dorf bei Kiew auf. Ihre Familie ist nicht reich, kann sich aber von ihrer eigenen Hände Arbeit ernähren. Als Stalins Handlanger die Dorfbewohner zwingen, dem Kollektiv beizutreten und für sie zu arbeiten, zerbricht ihr Glück. Denn wer sich weigert, wird mitgenommen und nie wieder gesehen, und auch Katjas Familie bleibt nicht verschont.

Jahrzehnte später entdeckt Cassie im Haus ihrer Großmutter in Illinois ein Tagebuch. Nie hat diese über ihre ukrainische Herkunft gesprochen. Seit einiger Zeit aber verhält sie sich merkwürdig. Sie versteckt Lebensmittel und murmelt immer wieder einen Namen, den keiner aus ihrer Familie je gehört hat: Alina …

* * *

Die Idee zu ihrem Debütroman „Denk ich an Kiew“ reifte in Erin Litteken, lange bevor Russland 2014 auf die Krim einfiel. Die Urenkelin einer Ukrainerin, die vor dem Zweiten Weltkrieg in die USA geflüchtet ist, lebt und arbeitet in Illinois. Dass sich die Veröffentlichung der englischsprachigen Originalausgabe „The Memory Keeper of Kyiv“ 2022 mit dem russischen Überfall auf die Ukraine überschnitt, weist die Brisanz und Relevanz der erzählten Geschichte auf.

Cassie ist jung verwitwet. Ihr Mann ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Seit diesem traumatischen Tag spricht ihre Tochter kein Wort mehr. Da soll sich Cassie um ihre alternde Großmutter kümmern. Diese überlässt ihrer Enkelin ein Tagebuch aus jungen Jahren, das von einer Zeit voller Angst, Trauer und Tod berichtet.

Die fröhliche und aufgeweckte Katja lebt zusammen mit ihrer Schwester und den Eltern in den 1930er-Jahren in einem Dorf bei Kiew. Sie träumt von einer sorgenlosen Zukunft mit ihrem Jugendfreund Pawlo. Da zwingen Stalins Schergen die Dorfbewohner, dem Kollektiv beizutreten. Jeder, der sich dagegen wehrt, wird deportiert oder sogleich erschossen.

Gekonnt verknüpft die Autorin zwei Zeitebenen, die Gegenwart mit der Protagonistin Cassie und die Vergangenheit mit der Geschichte ihrer Großmutter Katja, über die sie nie gesprochen hat. So erfährt der Leser zusammen mit Cassie nach und nach von der leidvollen Erinnerung an die Gräuel des Holodomor, als Stalin die „Brotkammer Europas“ bewusst aushungerte. Schätzungsweise vier Millionen Ukrainer fielen dem Genozid zum Opfer. Seit ihrer Unabhängigkeit 1991 bemüht sich die Ukraine um eine internationale Anerkennung des Holodomors als Völkermord. Dieses schreckliche Kapitel der ukrainischen Geschichte, das innerhalb der amerikanischen wie deutschen Leserschaft oft vergessen und gänzlich unbekannt ist, wird am persönlichen Schicksal Katjas eindrücklich erfahrbar.

Erin Litteken lässt ihre eigenen ukrainischen Wurzeln und Verwandten in die handelnden Charaktere ihrer Erzählung einfließen. Auf der ersten Ebene handelt es sich geradezu um einen historischen Roman, der einen wichtigen Teil europäischer Geschichte zugänglich macht. Doch geht es dann auch um den Umgang mit erlebten Traumata, um unterschiedliche Bewältigungsstrategien angesichts von unerträglichem Schmerz, um den Mut zum Neubeginn.

Dem Leser begegnen starke Frauengestalten, die ihr Päckchen zu tragen haben. Die einzige Schwäche des Romans ist ein Mann: Nick. Der romantische Handlungsstrang um den sympathischen und attraktiven Nachbarn der Großmutter ist zu vorhersehbar, zu kitschig, zu schön, um wahr zu sein.

Nichtsdestotrotz gelingt es Erin Litteken, einen bewegenden Roman über ein prägendes Kapitel der ukrainischen Geschichte und über die trotzige Hoffnung in Situationen völliger Hoffnungslosigkeit vorzulegen.

* * *

Erin Litteken
Denk ich an Kiew
398 Seiten
14,00 €
ISBN: 978-3-404-18989-2