„Evidenzbasierte Flüchtlingspolitik braucht nachhaltige und unabhängige Forschung“

„Angesichts polarisierter Debatten in der Öffentlichkeit und Politik sehen wir zunehmend die Notwendigkeit und den Bedarf an einer evidenzbasierten Politik. Diese braucht aber unabhängige und nachhaltige Forschung. Hierzu will das Netzwerk Flüchtlingsforschung einen Beitrag leisten“, erklärte zum Auftakt des Kongresses Dr. J. Olaf Kleist als designiertes Vorstandsmitglied des Netzwerks Flüchtlingsforschung. Der Politologe ist am Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien der Universität Osnabrück tätig. Derzeit umfasse das Netzwerk über 360 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus fast allen Disziplinen der Sozial- und Geisteswissenschaften. „Gerade die Interdisziplinarität und Multiperspektivität, die das Netzwerk fördert, erlaubt eine Annäherung an die Komplexität und gibt die Möglichkeit, das Globale und Lokale des Themas zu verbinden“, so Kleist weiter.

Prof. Dr. Klaus Dieter Altmeppen, wissenschaftlicher Leiter des Zentrums Flucht und Migration an der KU, ergänzte: „Unsere vorrangige Aufgabe als Zentrum Flucht und Migration liegt darin, nachhaltige Strukturen zu schaffen in der aktiven Flüchtlingshilfe – das ist aber nur ein Teil – und vor allem der Frage, wie können Fragen von Migration, Integration und Flucht langfristig angegangen werden. Dafür können wir zum Beispiel Bildungsstrukturen schaffen – das wollen wir zukünftig tun mit einem Studiengang „Flucht, Migration, Gesellschaft“ und einer Professur zu Flucht- und Migrationsforschung.“

KU-Präsidentin Prof. Dr. Gabriele Gien betonte, dass sich die KU aus ihrem Profil heraus den gesellschaftlichen Herausforderungen verpflichtet fühle. Deshalb sei das Zentrum Flucht und Migration gerade kein „Forschungszentrum im Elfenbeinturm“, sondern stehe genau an der Schnittstelle von Forschung, Lehre und Transfer, um die Kommunikation mit der Gesellschaft zu pflegen.

Stellvertretend für das Erzbistum München und Freising, welches das ZFM fördert, unterstrich Monsignore Rainer Boeck als Diözesanbeauftragter für Flucht, Asyl und Integration, dass das Thema der Konferenz auch für die Kirche noch lange Zeit bestimmend sein werde. Dabei gelte es im Sinne von Papst Franziskus zu beachten, dass Flüchtlinge nicht durch bloße Zahlen repräsentiert würden, sondern sie Personen mit Geschichten und Gesichtern seien.

Für die beiden Hauptvorträge der Konferenz konnten international renommierte Expertinnen gewonnen werden: Als führende Wissenschaftlerin zu Fragen des europäischen Flüchtlingsrechts thematisierte Prof. Dr. Cathryn Costello (Refugee Studies Centre, Universität Oxford) in Ihrem Vortrag zur europäischen Flüchtlingskrise, was es rechtlich und politisch bedeutet, eine Reihe von Ereignissen als „Krise“ zu definieren. Costello ist Co-Autorin mehrerer Studien für das Europäische Parlament sowie das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. „Das Interessante an der ,Flüchtlingskrise‘ aus dem Jahr 2015 ist, dass auf sie größtenteils mit den gleichen alten politischen und praktischen Maßnahmen reagiert wurde, anstatt dass gründlich über die Ursachen der ‚Krise‘ nachgedacht wurde. Hinzu kommt, dass die meisten politischen Darstellungen der Krise auf dubiosen Tatsachenbewertungen beruhen, wie z.B. die Aussage, dass „Merkel eine Millionen Flüchtlinge nach Deutschland eingeladen“ habe“, so Costello. Wenn die überraschend pessimistische Haltung der gegenwärtigen Politik uns paralysiere, seien wissenschaftlichere Ansätze notwendig, die uns den Rahmen des Möglichen in Erinnerung riefen. „Wir brauchen wissenschaftliche Arbeit, die sich nicht nur mit den Flüchtlingen selbst befasst, sondern auch mit jenen, die keine Flüchtlinge sind, mit jenen, die sich nicht in der Lage sehen, zu fliehen, die von Schutzsystemen zurückgewiesen werden und fernab von ehemaligen angeblichen Schutzstrukturen stehen“, forderte Costello.  

Im zweiten Keynote-Vortrag beschäftigte sich die Soziologin Dr. Rose Jaji (Universität Zimbabwe) mit der Schaffung sozialer Vorstellungen über Geflüchtete als „Andere“ und potentielle „Gefahrenträger“ und diskutierte mögliche Auswirkungen auf Integrationsprozesse. Dabei beschrieb sie, wie Räumlichkeiten geschaffen werden, die zur Ausgrenzung von Flüchtlingen dienen. Sie verwies auf Grenzen und Lager als Beispiele der Kontrolle von Flüchtenden, die durch eine Betonung von Körperlichkeit zum Ausschluss, zumal von schwarzen Männern, aus politischen Gemeinschaften beitrügen. Dies stehe gerade in Afrika in einer kolonialen Tradition, die auch durch aktuelle Politik reproduziert werde. Sie machte auf die Konstruktion von Nationalstaaten im Sinne einer territorialen Abgrenzung und damit verbundenen Kategorisierungen von ‚Wir‘ und ‚Die‘ sowie ‚Innen‘ und ‚Außen‘ aufmerksam. Mit der Herstellung ‚des Anderen‘ gingen bestimmte Zuschreibung einher und damit würden exkludierende Praktiken in Aufnahmeländern legitimiert. Beispielhaft seien hier laut Jaji Flüchtlingslager, Abschiebeeinrichtungen und Gefängnisse zu nennen. Sie verdeutlichte die Verwischung von Zugehörigkeiten und starren Kategorien an Beispielen von Grenzüberschreitungen.In der anschließenden Diskussion mit dem Publikum ging es um inner-afrikanische Differenzierungen und die Frage, ob nicht auch Räume der Selbstbestimmung für Flüchtlinge geschaffen werden könnten.

Bei einem Roundtable zur Zukunft der Flucht- und Flüchtlingsforschung diskutierten Teilnehmerinnen und Teilnehmer, welcher inhaltlichen und organisatorischen Herausforderungen sich das Forschungsfeld gegenübersieht und wie Ergebnisse besser mit der Politik und Praxis geteilt werden können. Internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler berichteten über eigene Erfahrungen in diesen Bereichen. Dabei wurde die Notwendigkeit einer besseren Kooperation zwischen Forschenden aus Europa und aus dem globalen Süden, verstärkte regionale und globale Forschungsnetzwerke sowie ein dialogisches und partizipatives Forschen mit Geflüchteten und anderen Beteiligten betont. 

 

Auf der Mitgliederversammlung des Netzwerks Flüchtlingsforschung wurden wichtige Weichenstellungen für die Zukunft des Forschungsfeldes gelegt. Die Mitglieder stimmten für eine Umbenennung des Zusammenschlusses in "Netzwerk Fluchtforschung", um auf die Prozesshaftigkeit der zu untersuchenden Phänomene zu verweisen. Zudem wurde eine Satzung verabschiedet und ein achtköpfiger Vorstand gewählt, um das Netzwerk als gemeinnützigen Verein zu registrieren. Damit wurden Strukturen geschaffen, die eine nachhaltige und unabhängige Vernetzung, Kooperation und Förderung der Fluchtforschung in Deutschland erlauben.

 

Das ausführliche Programm der Tagung findet sich unter
www.fluechtlingsforschung.net

Weitere Impressionen der Konferenz gibt es auf der Homepage des Zentrums Flucht und Migration.

Über das „Netzwerk Flüchtlingsforschung“:

Das Netzwerk Flüchtlingsforschung ist ein multi-disziplinäres Netzwerk von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Deutschland, die zu Zwangsmigration, Flucht und Asyl forschen sowie internationaler Forscherinnen und Forscher, die diese Themen mit Bezug zu Deutschland untersuchen. Es will es der Flüchtlingsforschung mehr Aufmerksamkeit verschaffen und damit die Relevanz einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Zwangsmigration, Flucht und Asyl hervorheben. Das 2013 gegründete Netzwerk etablierte im Zuge der Konferenz einen gemeinnützigen Verein, um die Flüchtlingsforschung dauerhaft und nachhaltig in Deutschland etablieren zu können.

Über das „Zentrum Flucht und Migration“ der KU:

Das Zentrum Flucht und Migration Eichstätt-Ingolstadt beschäftigt sich mit Ursachen und Auswirkungen von Flucht und Migration, vermittelt Studierenden der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt berufsbezogene und interkulturelle Kompetenzen, unterstützt Geflohene durch konkrete Bildungsangebote, bietet Lehrenden eine Plattform und fördert den Dialog zwischen Wissenschaft, Lehre und Praxis. Es verfolgt seinen Auftrag durch die drei Handlungsfelder Forschung, Bildung und Coaching sowie Dialog und Transfer. Das Zentrum wird finanziell unterstützt durch das Erzbistum München und Freising.