Gedichte können Leben verändern

„Du mußt Dein Leben ändern“ heißt es in Rilkes berühmtem Sonett Archaïscher Torso Apollos aus dem Jahr 1908 (s.u.). Wer aber nicht, wie Peter Sloterdijk in seinem Essay über Anthropotechnik (2009), gleich zur ganz großen Transformation aufbrechen will, der kann auch kleiner anfangen, nämlich einfach mit der Lektüre von Lyrik. Denn Gedichte, so der Münchner Literaturwissenschaftler und Begründer des unlängst eröffneten Zentrums für Gegenwartsliteratur ZfGL Prof. Dr. Frieder von Ammon, können Leben verändern. Der Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literatur der KU wird in Zukunft mit den KollegInnen von der LMU enger zusammenarbeiten. Die Themen Lyrik(ologie), also Theorie und Geschichte der Lyrik, sowie die Gegenwartsliteratur bilden auch einen Schwerpunkt im Team von Prof. Dr. Friederike Reents in Eichstätt.

Gedichte können Leben verändern
© Anna Aicher (Die Zeit) Frieder von Ammon, Lehrstuhlinhaber für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München, bei der Gedicht-Lektüre.
Rainer Maria Rilke
Archaïscher Torso Apollos

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.

In: Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Erster Band. 
Frankfurt am Main 1955, S. 557.