Geographin erforscht die dynamische Beziehung zwischen Mensch und Wolf

Das Bild vom Wolf als blutrünstiges Monster ist tief verankert in Märchen und Volksglaube des deutschsprachigen Raums. Wie tief, belegen die Reaktionen in der Öffentlichkeit, wenn es um die Rückkehr von Wolfsrudeln in Siedlungsnähe geht. „Das Image vom ,bösen Wolf‘ greift jedoch nicht in der Realität. Stattdessen ist in Gebieten mit Wölfen ein dynamischer Prozess zwischen Mensch und Tier im Gange, bei dem der Mensch erst noch praktische Erfahrungen sammeln, eine neue Rolle finden und Routine im Umgang mit diesen Tieren zurückgewinnen muss“, erklärt die Geographin Verena Schröder von der KU. Am Beispiel des Calanda-Massivs im schweizerischen Graubünden und St. Gallen untersucht sie für ihre Doktorarbeit, welche Auswirkungen ein in der dortigen Region lebendes Wolfsrudel auf das alltägliche Leben hat und wie der Mensch selbst das Verhalten der Tiere beeinflusst. Das Untersuchungsgebiet ist auch deshalb interessant, da das Streifgebiet der Wölfe in unmittelbarer Nähe zur Stadt Chur liegt.

Schröder befragte unter anderem Schaf- und Viehlandwirte, Jäger, Förster, Bewohner sowie Funktionäre des Vereins „Lebensraum Schweiz ohne Großraubtiere“. Letztere bringen unter anderem die Verluste durch vom Wolf gerissene Schafe als Argument für Abschüsse vor. Der Verein ist sehr aktiv und mit den regionalen Medien gut vernetzt. Im Hinblick auf den öffentlichen Diskurs über Wölfe sei es wichtig, dass dieser nicht einseitig bestimmt werde, erklärt die Geographin.

Denn in der Region rund um das Calanda-Massiv werde nicht erst seit der Rückkehr der Wölfe Herdenschutz durch spezielle Hunde betrieben, die mit den Schafen aufwachsen und sie als ihre vermeintlichen Artgenossen verteidigen. „Einige Landwirte hatten sich bereits vor der Rudelbildung Herdenschutzhunde angeschafft, deren Einsatz ursprünglich vor allem gegen wildernde Hunde gerichtet war“, erläutert Schröder. Ebenfalls ist der Einsatz von Hirten bei entsprechender Herdengröße weit verbreitet. Der Staat fördert diese Maßnahmen und leistet Entschädigungszahlungen, sofern man Herdenschutz betreibe. Jedoch müsse von letzteren verhältnismäßig wenig Gebrauch gemacht werden, da sich das Rudel des Calanda-Massivs einerseits auf Rothirsche spezialisiert habe, gefolgt von Rehen und Gämsen und andererseits die umfassenden Herdenschutzmaßnahmen zum Greifen kämen.

Neben dem finanziellen Aspekt spielt in der Diskussion um die Rückkehr der Wölfe vor allem die Frage von Sicherheit eine Rolle. Dabei sei der Zungenschlag in der medialen Berichterstattung häufig einseitig: „Wildtierrisse in Siedlungsnähe werden gerne ,mitten im Dorfzentrum‘ oder ,direkt neben der Schule‘ verortet“, sagt Schröder, die für ihre Arbeit auch den Deutungsrahmen (engl. Framing) untersucht, in dem öffentlich über den Wolf verhandelt wird. Wie aus ihren Untersuchungen hervorgeht, werden Wölfe in den Medien mehrheitlich mit negativen Passwörtern, wie beispielsweise „Problem“, „Gefahr“ oder „Verlust von Scheu“ verbunden, während Themen wie die „ökologische Funktion“ oder die „ausgeprägte Sozialität“ der Tiere ausgeblendet werden. „Aus diesen Ergebnissen sowie dem Umgang ‚mit Neuem und Unbekanntem‘ – dem Wolf – lässt sich vieles über eine Gesellschaft ablesen“, gibt die Geographin zu verstehen.

Es sei daher ratsam, Medienberichte über den Wolf kritisch zu lesen, denn sie stellen immer eine selektive Wahrnehmung dar. Die für ihre Untersuchung herangezogene Framingtheorie besage zudem, dass die wiederholte, mediale Verbindung von Wölfen mit negativen Deutungsrahmen zur Folge habe, dass Menschen diese so genannten assoziativen Netzwerke in ihrem Gehirn speichern und abrufen, sobald sie mit dem Begriff „Wolf“ konfrontiert werden. „Im Kontext der Wolfsrückkehr bedarf es sprachlicher Alternativen, will man eine Pluralität von Denkweisen langfristig bewahren.“

Der Mensch habe selbst Einfluss darauf, wie nah Wölfe sich Siedlungen nähern: „Der Wolf folgt seinen Beutetieren. Wenn man in der Nähe von Ortschaften beispielsweise Winterraps anbaut, der Rot- und Rehwild anlockt, werden dort dann auch Wildtiere gerissen.“ Gleiches gelte für sogenannte Luderplätze in der Nähe von Siedlungsgebieten, mit denen Jäger Füchse durch Köder anlocken. Diese Form der Fuchsjagd wurde im Untersuchungsgebiet daher für das Umfeld von Ortschaften verboten.

Generell hat sich, wie die Gespräche Schröders vor Ort zeigten, der Charakter der Jagd geändert: Das Wild sei nicht mehr so berechenbar zu finden wie in früheren Zeiten und weicht während der Hochjagd im September nicht mehr in ausgewiesene Wildschutzgebiete aus, in denen es anfangs von den Wölfen erwartet und auch teilweise den Jägern zugetrieben wurde. Rehe versteckten sich nun noch mehr, Gämsen hielten sich wieder näher am Fels auf und Hirsche wanderten in die tiefer gelegenen Laubwälder. Diese Entwicklung mache die Jagd sportlicher und herausfordernder, sowohl für den Menschen als auch für den Wolf. Während einige Jäger diesem Wandel kritisch gegenüberstehen, gibt es andere, die in der Rückkehr der Wölfe eine Bereicherung sehen und ihre erlegten Tiere nun wieder stärker wertschätzten. Hinzu komme, dass die Wölfe sehr selektiv Beute machen, so dass sich vor allem gesunde und starke Tiere fortpflanzen würden. Außerdem sei seit der Rückkehr der Wölfe die für den Schutzwald sehr wichtige Weißtanne wieder höher gewachsen, da der Verbiss an jungen Bäumen durch Rot- und Rehwild abgenommen habe bzw. diese nun stärker im Raum verteilt wären.

Ein Großteil der Befragten hat eines oder mehrere Tiere des Calanda-Rudels bereits gesehen. „Für alle Interviewpartner waren die Begegnungen sehr eindrücklich und die meisten gingen mit einem positiveren Gefühl heraus, weil sie gemerkt haben, dass die Wölfe an ihnen nicht interessiert waren.“ Dabei könne es gelegentlich vorkommen, dass sich die Tiere anders verhalten als etwa Füchse oder anderes Wild, das schnell die Flucht ergreife. „Wölfe sind sehr schlaue und neugierige Tiere. Sie können einem auch mal in die Augen sehen und sich erst nach ein paar Sekunden zurückziehen. Das mag manche Menschen irritieren, sei aber nicht ungewöhnlich“, so die Geographin. Es brauche noch längere Erfahrung, um langfristig die Gewissheit zu vermitteln, dass es den bösen Wolf nur im Märchen gibt, führt sie weiter fort. Dabei erwarte sie sich von politischen Entscheidungsträgern, dass diese Ängste nicht schüren oder instrumentalisieren, sondern zu einer Versachlichung beitragen. Darüber hinaus wünsche sie sich, dass das Thema Wolf ganzheitlicher betrachtet wird und Unverhältnismäßigkeiten häufiger aufgedeckt werden: Denn ein Blick in die Statistiken der Schweiz zeige, dass „die Wahrscheinlichkeit als Reh von einem Wolf gefressen zu werden um ein Vielfaches niedriger ist, als durch den Autoverkehr oder durch landwirtschaftliche Maschinen umzukommen. Aber dieses Thema wird von den meisten Medien weitestgehend ausgeblendet, wo wir wieder beim Stichwort ‚Framing‘ angelangt wären.“