Studierende blicken hinter die Kulissen der Bundeswehr und der deutschen Sicherheitspolitik. Das ist die Exkursion Lernort Berlin zum Thema „Zeitenwende: Aktuelle Entwicklungen in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik bewältigen und kommunizieren“.
Von Malena Gies
Strausberg – Eine bunte Truppe von Studierenden nähert sich dem Tor des Zentrums für Informationsarbeit der Bundeswehr. Der Pförtner und seine blonde Kollegin in Tarnkleidung mustern den Haufen von 17 Studierenden kritisch. Der kahle Kopf des Pförtners verschwindet in dem kleinen Häuschen neben dem Tor. Er sucht hastig nach der Liste für unser Anmeldung, aber fixiert uns trotzdem mit seinen kühlen blauen Augen. Kalter Herbstwind weht einige gelbe Blätter über den Weg und lässt uns frösteln. Nach kurzem Gespräch wird uns Studierenden samt Professor Martin Schneider und Christoph Seidenfus der Zugang gewährt. Die Beiden haben in Zusammenarbeit mit Dr. Caja Schleich-Jäckel die Exkursion monatelang akribisch geplant. Lernort Berlin wird von der Fakultät „School of Transformation and Sustainability“ in Kooperation mit dem Zentrum Informationsarbeit Bundeswehr (ZInfoABw) angeboten. Christoph Seidenfus ist Transaktionsanalytiker und vermittelt den Studierenden Fähigkeiten in der Kommunikation. Martin Schneider lehrt Moraltheologie und christliche Sozialethik. Caja Schleich-Jäckel ist Politikwissenschaftlerin und als wissenschaftliche Oberrätin beim ZInfoABw tätig.
Wir marschieren mit unseren Koffern durch die Pforte über einen Platz Richtung Hauptgebäude. Davor steht ein Fahnenmast: Neben der Flagge der EU und Deutschland weht auch die amerikanische Flagge im frischen Herbstwind. Vor der Glastür zum Gebäude parkt ein schwarzer Mercedes. Die Sonne glitzert in den verdunkelten Fenstern.
Einige Uniformierte kreuzen unseren Weg. Manche tragen graue, blaue oder die klassischen Tarnfarben. Kritisch beäugen wir uns gegenseitig. „Wer sind die denn?“, fragen sich wohl beide Seiten. Die Uniformen wirken auf uns befremdlich.
Ehrfürchtig betreten wir das Hauptgebäude. Das gleicht innen eher einer Hotellobby. Durch die großen Fenster und die gläsernen Türen ist der Raum durch die Sonneneinstrahlung aufgeheizt. Vor uns erstreckt sich ein riesiges Mosaik aus Meissner Porzellan, auf dem die Gesichter Lenins, Engels und Marx abgebildet sind. Das Gebäude wurde durch die deutsche Geschichte geprägt. Früher wurde das Mosaik verhüllt, weil es an die Zeit erinnert, als das Gebäude das Tagungszentrum der DDR war. Das kommunistische Motiv wurde nach der Wiedervereinigung kritisch gesehen und verhängt. Heute liegt das Mosaik offen und ist mit Infotafeln versehen. Der Grund: Erinnerung und Aufklärung über das, was damals geschehen ist.
Die Wände sind weiß und schlicht gehalten. Einige Türen und Durchgänge, die in Konferenzräume zum Speisesaal führen, sind mit dunklem Holz gesäumt. Auf dem Holz markieren goldene Buchstaben den Weg. Das Einzige, was nicht an ein Hotel erinnert, sind die Soldaten, die sich gegenseitig salutieren und weiter skeptisch zu uns rüber blicken. Nur der Soldat beim Einchecken erklärt uns geduldig, wie das WLAN funktioniert.
So viele uniformierte Soldaten sehen wir sonst nur selten. Uns erwartet die wissenschaftliche Oberrätin, die als Politikwissenschaftlerin in der Informationsarbeit tätig ist. Sie arbeitet als Zivilistin bei der Bundeswehr und trägt keine Uniform, sondern sieht so aus wie wir. Es folgt eine Präsentation, die uns erste Einblicke in die Sicherheitspolitik gewährt. Daraufhin entstehen interessante Diskussionen über die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik bei denen wir bemerken, wie unterschiedlich wir alle sind. Unsere bunte Gruppe besteht nämlich aus Studierenden der BWL, Politik, Journalistik, Soziologie, Religionspädagogik und Bildung für nachhaltige Entwicklung. So unterschiedlich wie die Studiengänge sind, sind auch die Auffassungen zur Friedenspolitik, dem politischen Willen oder der Definition von Wohlstand. Da passiert es auch, dass wir eine Stunde lang über eine einzige PowerPoint-Folie diskutieren. Trotz der heißen Diskussion behalten alle ihren respektvollen Umgang bei.
Später sprechen wir auch mit einem Oberst, der eng mit ukrainischen Soldaten arbeitet. Er wirkt fremd in der Uniform – fremd und kühl. Aber das verschwindet direkt, als er uns erzählt, wer er ist und was er macht. Der glatzköpfige Mann mittleren Alters zeigt uns Bilder und präsentiert uns Fakten zum russischen Angriffskrieg. Die kühle Luft im Seminarraum fühlt sich trotz seiner Freundlichkeit nach seinem Vortrag noch kälter an. Alle sind betrübt über das, was wir gehört haben und jeder von uns löchert den Oberst mit Fragen, die er ehrlich beantwortet. Die Realität war selten so nah. In der Ukraine würden wir wohl alle eingezogen werden. Aber hier müssen wir in keinen Krieg ziehen und müssen nicht fürchten bombardiert zu werden. Oder uns fragen, wie lange wir noch leben. Der letzte Satz des Offiziers: „Seien Sie froh, dass Sie hier sind“ hallt noch lange nach. Wir haben ein großes Privileg, was wir leider viel zu oft vergessen. Der Offizier hat uns an dieses Privileg erinnert.
Abends fallen wir müde ins Bett. Der Tag war voller Ereignisse und Geschichten, die erstmal verdaut werden müssen. Genauere Details zu Personen oder Vorträgen dürfen zum Schutz der Vortragenden leider nicht veröffentlicht werden. Solche Seminare finden immer unter Chatham House Rules statt. Diese regeln die Weitergabe von Informationen an Dritte. Die Oberrätin legt als Politikwissenschaftlerin hohen Wert auf diese Regeln.
Weitere Gespräche folgen die Tage. Außerdem besichtigen wir das Ehrenmal der Bundeswehr. Ein großer rechteckiger Block, der mit Bronze umhüllt ist, erinnert an die Soldaten und Soldatinnen, die im Dienst gestorben sind. Auf dem festen Beton steht unsere Gruppe und lauscht den Worten unseres Guides, der eigentlich ein Unteroffizier der Marine ist. Ehrfürchtig blicken wir uns die Bronze an und verstehen langsam die Bedeutung von dem, was wir hier gerade sehen. Hinter jedem Namen dieser langen eingravierten Liste steht ein Mensch. Ein Mensch, der für uns und unsere Freiheit und Demokratie gestorben ist. In der Bronzeverkleidung des Denkmals sind Kreise und Halbkreise ausgestanzt. Als Laie verstehen wir diese Bedeutung erstmal nicht bis uns der Unteroffizier die Marke zeigt, die genau in einen der Kreise passt. Die Marke kennen einige von uns aus dem Film „Im Westen nichts Neues“. Jeder Soldat trägt eine silberne Marke bei sich. Wenn er fällt und von seinen Kameraden gefunden wird, wird diese Marke gebrochen. So werden Tote schneller und zuverlässiger identifiziert. Die gebrochene Marke ist nun halbkreisförmig und würde genau in den Halbkreis der Bronzeverkleidung passen. Wir erschaudern und sind gleichzeitig fasziniert über die versteckte Bedeutung. Gebannt verfolgen wir dem weiteren Vortrag und löchern den Guide. Er erzählt uns Geschichten aus seinem Leben als Soldat. Auch er beantwortet jede Frage ehrlich und authentisch, was wir ihm hoch anrechnen.
Danach bewegen wir uns langsam in Richtung Berlin-Kreuzberg. Wir reden noch einige Zeit über das, was wir erfahren haben und stürzen uns dann ins Berliner Nachtleben. Eine wohlverdiente Ablenkung. Mit kalten Fingern und Wegbier in der Hand begegnen wir im späten Zug zurück nach Strausberg einigen Soldaten in Zivil. Die Vier sehen wir auch jeden Morgen im Frühstücksraum, aber anstatt uns kritisch zu beäugen, grüßen sie uns direkt und wir beginnen ein lockeres Gespräch. Durch die Seminare und den dauerhaften Bezug zur Bundeswehr stellten wir mehr und mehr fest, dass die Uniformträger hinter den Kulissen auch Familienväter, Mütter oder Geschwister sind. Die restliche Fahrt unterhalten wir uns und am nächsten Tag nicken wir uns sogar freundlich beim Frühstück zu. Die skeptischen und kritischen Blicke untereinander sind plötzlich verpufft. Einer der Vier sagte zu uns: „Wir möchten einfach nur von euch und der Gesellschaft respektiert und akzeptiert werden.“ Die Bundeswehr ist eben gar nicht so weit entfernt, wie wir immer dachten. Sie ist ein wichtiger Akteur, um unsere Demokratie aufrecht zu erhalten. Eben Familienväter, Mütter, Geschwister, Kameraden, die auf gefährliche Missionen ins Ausland gehen, damit wir unser entspanntes Alltagsleben führen können. Und das haben wir in wenigen Tagen zu schätzen gelernt.