von Simeon Gloger OSB
#BuchdesMonats #Heimat #Armenien
In Karlas Familie wissen alle, wie es sich anfühlt, nicht dazuzugehören. Karla erlebt es als Kind in Bremen-Nord. Ihr Vater Avi auf den Straßen von Istanbul. Die Großmutter Maryam als Gastarbeiterin in Deutschland. Als die Großmutter stirbt, taucht der Name einer Frau samt einer Adresse in Armenien auf. Karla gelingt es, ihren Vater zu einer gemeinsamen Reise zu überreden – in eine Heimat, die beide noch nie betreten haben. Einfühlsam und bewegend fächert Laura Cwiertnia die verzweigten Pfade einer armenischen Familie auf und erzählt, wie es ist, keine Geschichte zu haben, die man mit anderen teilen kann.
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Fast 80 000 Armenier leben schätzungsweise in Deutschland. Eine eigene Diözese der Armenischen Apostolischen Kirche regelt das kirchliche Leben hierzulande. Vereine wie der „Zentralrat der Armenier in Deutschland“ oder ein umtriebiger „Jugendverband der Armenier in Deutschland“ (ARI) zeigen bestens die Vernetzung der gut integrierten Minderheit. Einige Armenier sind erst kürzlich aufgrund des jüngsten Bergkarabach-Konflikts als Asylsuchende nach Deutschland gekommen, andere hingegen leben seit Generationen hier.
„Auf der Straße heißen wir anders“ beschreibt den Hintergrund dieser „alteingesessenen“ Deutsch-Armenier, bei denen oftmals nur noch wenige Traditionen weitergegeben werden. Manchmal verweist nur noch der Eigenname auf den armenischen Hintergrund, der zudem auch nur noch im familiären Umfeld Verwendung findet – worauf der Titel des Romans hinweist.
Laura Cwiertnia, geboren 1987, sieht zwar ihr Buch nicht als Autobiographie an, dennoch lassen sich in dieser autofiktionalen Erzählung Parallelen zwischen der Ich-Erzählerin und der Autorin aufzeigen. Auch die Protagonistin des Romans, Karlotta – auf der Straße Karla genannt –, ist in einer Hochhaussiedlung in Bremen-Nord aufgewachsen. In besonderer Weise stellt sich ihr nach dem Tod der armenischen Großmutter, die in den 60er-Jahren als Gastarbeiterin nach Deutschland gekommen ist, die Frage nach Herkunft und Heimat, zumal in der Elterngeneration weder armenisch noch türkisch gesprochen wird.
Zusammen mit ihrem Vater reist Karlotta, nach geleisteter Überzeugungsarbeit ihrerseits, tatsächlich nach Armenien. Beiden begegnet hier zum ersten Mal eine Gesellschaft, die ihnen zugleich fremd und doch vertraut erscheint. Die Suche nach den familiären Wurzeln wird auch zu einer Suche nach der eigenen Identität. Doch ist die Vergangenheit nicht mittlerweile so entrückt, dass eine Anknüpfung überhaupt noch möglich ist? Vater und Tochter sind sich mehrmals unschlüssig. Mitten hinein in diese Suchbewegung wird als Rückblende die Lebensgeschichte der Großmutter erzählt. Aufgewachsen in Istanbul und konfrontiert mit den Problemen einer Minderheit, sucht sie eine Beschäftigungsmöglichkeit und findet sie in Deutschland. Auch die Geschichte von Karlas Vater wird erzählt. Als Jugendlicher wird er ins Priesterseminar des Jerusalemer Armenischen Patriarchats geschickt, aus dem er aber nach einiger Zeit wieder flieht. Am Ende werden Vater und Tochter schließlich doch in Armenien fündig: Vor dem Haus, in dem Karlas Urgroßmutter gewohnt hat, kommt auch ihre innere Suche zu einem Ziel.
Die drei Städte Jerusalem, Jerewan und Istanbul stehen für wichtige Orte der armenischen Geschichte. Ebenso wird die prägende Erfahrung des Genozids wiedergegeben, wenn die Ich-Erzählerin vom eindrücklichen Besuch in Zizernakaberd, dem Völkermord-Denkmal, berichtet.
Mit dieser Familiengeschichte wird über vier Generationen hinweg armenische Geschichte lebendig und farbig präsentiert. Der Autorin ist mit diesem literarischen Debut ein äußerst spannender Roman gelungen, den man kaum aus der Hand legen kann und der der armenischen Minderheit in Deutschland eine Stimme verleiht.
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Laura Cwiertnia
Auf der Straße heißen wir anders
240 Seiten
12,00 €
ISBN: 978-3-442-49418-7