Der gebürtige Berliner bringt einen ungewöhnlichen Hintergrund mit: Er hat an der Universität Hamburg ein Doppelstudium in Jura und Philosophie absolviert. Startpunkt war für ihn die Rechtswissenschaft, über die Frage nach Gerechtigkeit kam er dann zur Philosophie. „Im Jurastudium geht es eher darum, wie das Recht ist – und weniger um die Fragen, die mich interessierten, nämlich warum es so ist und wie es besser sein könnte“, erinnert sich Paulo. Sein Professor, der bekannte Rechtsphilosoph Reinhard Merkel, habe ihn schließlich zu den Philosophen geschickt: „Das war das große Aha-Erlebnis, das mein ganzes Leben verändert hat.“
Paulo promovierte an der Uni Hamburg, die Habilitation folgte an der Universität Graz. Akademisch tätig war er als Postdoc zunächst an der Universität in Salzburg, dann in Graz. Nach seiner Habilitation übernahm er eine Vertretungsprofessur am Institut für Philosophie der FU Berlin. Zuletzt leitete Paulo an der LMU München im Rahmen des Heisenberg-Programms der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ein Projekt zu Gedankenexperimenten in der Praktischen Philosophie. Seit 2021 ist er zudem Ko-Leiter eines Forschungsprojekts zur Ethik selbstfahrender Autos an der Universität der Bundeswehr in München. Eine Tätigkeit, die er auch an der KU fortsetzen will.
Paulos philosophisches Interesse gilt insbesondere der Methodologie: In seiner Dissertation nutzte er seinen doppelten fachlichen Hintergrund und untersuchte, wie abstrakte Moralprinzipien in der Ethik im Einzelfall zur Geltung kommen und orientierte sich dabei an der Methodenlehre aus der Rechtstheorie. In seiner Habilitationsschrift befasste er sich mit der Frage, wie Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften in die normative Ethik hineinspielen. „Man geht häufig davon aus, das seien getrennte Sphären – aber ich glaube, sie überlappen sich auf vielen Ebenen und für die Ethik habe ich das versucht weiter auszuarbeiten.“ So verband Paulo in seiner bisherigen akademischen Karriere nicht nur Jura und Philosophie, sondern auch Theorie und Empirie.
Im Rahmen seines Heisenberg-Projekts widmet er sich Gedankenexperimenten: „Die Grundidee war, wissenschaftliche Methoden in die normative Ethik zu bringen“, erläutert Paulo. Szenarien wie das berühmte Trolley-Problem zeigten, wie sich durch kleine Veränderungen in Gedankenexperimenten große Unterschiede in moralischen Urteilen ergeben. „Das funktioniert strukturell ähnlich wie ein naturwissenschaftliches Experiment – nur eben im Kopf.“ Sein Ziel ist eine Theorie der Gedankenexperimente in der praktischen Philosophie. Für die Stelle an der KU pausiert er das Heisenberg-Projekt zwar derzeit, will aber die Thematik in der Lehre weiterverfolgen.
An der KU richtet Paulo seinen Blick vor allem auf zwei Schwerpunkte: Digitalisierung und Nachhaltigkeit sowie Digitalisierung und Demokratie. Dabei geht es ihm um zentrale Fragen zur Zukunft der Gesellschaft: „KI frisst unglaublich viel Energie und Ressourcen – aber sie kann auch helfen, Lebensstile oder Infrastrukturen so zu verändern, dass eingespart wird“, sagt er. Es gehe nicht darum, Entwicklungen im Bereich KI zu stoppen, sondern sie so zu gestalten, „dass wir mit Blick auf Nachhaltigkeitsfragen möglichst sinnvoll damit umgehen“.
Norbert Paulo plädiert zudem für demokratische Kontrolle technischer Entwicklungen. „Aktuell wird die Entwicklung von KI vornehmlich von wenigen amerikanischen Männern mit teils merkwürdigen Ansichten gesteuert“, sagt der Philosoph und fordert: „Der Staat sollte sich hier deutlich stärker einmischen, die Menschen in dieser Gesellschaft sollten mitbestimmen über die Grenzen und Möglichkeiten der Entwicklung.“ Als konkretes Beispiel führt er den Bereich autonomes Fahren an: „Wir haben bereits teilautonome Fahrzeuge auf der Straße und dennoch lässt der Gesetzgeber in Deutschland viele Fragen offen und verzichtet auf Regulierung.“ Entscheidungen in potenziell tödlichen Unfallsituationen würden damit „faktisch den Autobauern überlassen“. Für ihn ein klarer Fall: „Das muss explizit geregelt werden.“
Neben Forschung und Lehre ist dem neuen KU-Professor auch der Transfer in die Öffentlichkeit wichtig. In Ingolstadt soll ein thematischer Ankerpunkt dabei Mary Shelleys „Frankenstein“ werden. Der Roman, der teilweise in Ingolstadt spielt, bietet für Paulo eine kulturelle Vorlage, um die KI-Debatte zugänglich zu machen: „Shelley lässt den jungen Victor Frankenstein in wissenschaftlicher Hybris eine Kreatur erschaffen, ohne sich der Folgen seiner Erfindung bewusst zu sein. Die Parallelen zu aktuellen Entwicklungen im Bereich der KI liegen auf der Hand.“
Paulos Professur ist verortet an der School of Transformation and Sustainability der KU (STS) und gezielt fakultäts- sowie standortübergreifend angelegt. Diese Brückenfunktion versteht er als Chance: „Mein Ziel ist es, die Bereiche Geistes- und Sozialwissenschaft sowie Data Science stärker zu verbinden, auch in der Lehre.“ Geplant ist unter anderem die Weiterentwicklung von Ethikmodulen sowie eine bessere Vernetzung der Studierenden in Eichstätt und Ingolstadt. Die Stiftungsprofessur ist eine von drei Professuren, die von der Stadt Ingolstadt an der KU eingerichtet wurden – die anderen beiden Professuren sind im Mathematischen Institut für Maschinelles Lernen und Data Science angesiedelt.
Was ihn an der neuen Stelle besonders gereizt hat, beschreibt Norbert Paulo so: „Mich hat vor allem die Möglichkeit angesprochen, bei null zu starten und einen Bereich nach eigenen Vorstellungen aufzubauen.“ Genau das will er nun tun – in Forschung, Lehre und Transfer. „Das Potenzial, das wir in den verschiedenen Fakultäten der KU zum Thema Ethik bereits haben, möchte ich gern helfen zu heben, zu bündeln und sichtbarer zu machen.“