„Das Europäische Parlament wird ausgehebelt, die Europäische Kommission an den Rand gedrängt und der Bundestag ausgeklammert“ kritisierte Kreissl-Dörfler die derzeitige Entwicklung der Europäischen Union. Seit Ausbruch der Banken- und Finanzkrise habe sich die intergouvernementale Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zulasten der europäischen Institutionen verstärkt. Die damit einhergehende Regouvernementalisierung und Renationalisierung halte er für gefährlich. Verstärkt würde diese durch eine fehlende Krisenbewältigung, „die Krisen werden nicht gelöst, sie werden verschoben“ so das Mitglied des Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten.
In seinem Vortrag beschränkte sich Kreissl-Dörfler nicht auf die Kritik an der derzeitigen Entwicklung der EU. Er forderte auch den Blick weg von „technokratischen Diskussionen“ hin zu einer Wertediskussion zu lenken. Viele hätten das „Projekt aus den Augen verloren“, dass die Europäische Union darstelle. Der Lissabon Vertrag könne ein Instrument zur Diskussion über Werte sein, allerdings sei dieser bisher ungenutzt geblieben. Der Europaabgeordnete warb für die soziale Einbindung eines jeden und für eine solche Gestaltung des politischen wie gesellschaftlichen Systems, dass „jeder Gerechtigkeit spürt“. Seit 1994 ist Wolfgang Kreissl-Dörfler Mitglied des Europäischen Parlaments. Zuvor war er als Sozialpädagoge und Entwicklungshelfer tätig. Als Wahlbeobachter war Kreissl-Dörfler unter anderem in Ost Timor und Guatemala im Einsatz. Mit zahlreichen Beispielen aus diesen Tätigkeiten spannte er immer wieder den Bogen zu anderen Kontinenten und zeigte so die Gefahren von sozialen Spannungen auf, die sich auch in Europa mit der derzeitigen Krise verschärft hätten. Wie für die Studenten der Fakultät für Soziale Arbeit sei die Frage „Wie gehe ich mit dem nächsten um?“ auch eine zentrale für die Abgeordneten bei der Entscheidung über das „was hilft den Staat am laufen zu halten“.
Die dem Vortrag folgende lebhafte Diskussion spiegelte die Themenbreite des Vortrags wieder. „Ich bin Anhänger eines föderalen Systems“ erklärte der bayerische Abgeordnete auf Nachfrage wie sich die EU weiterentwickeln könne. Betonte aber zugleich, dass dieses „wachsen muss“ und ohne weitere Hoheitsübertragungen an europäische Institutionen nicht möglich sei. Er plädiere allerdings für eine vorherige Stärkung der derzeitigen Institutionen. Die Frage nach weiteren Mitgliedstaaten und Fehlern bei der Aufnahme von osteuropäischen Ländern wurde ebenso gestellt wie die nach europäischen Werten und einer europäischen Kultur. Pauschale Kritik an „denen in Brüssel“ wies Kreissl-Dörfler ausdrücklich zurück und betonte, dass das Europäische Parlament in Zukunft ein noch größeres Gewicht in der politischen Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene erhalten müsse. Auf die darauf folgende Einlassung einer Zuhörerin, dass das Europäische Parlament unbedeutend sei, antwortete der Abgeordnete augenzwinkernd: „Danke“.
Simon Sterbenk