Shady Lewis: „Auf dem Nullmeridian“

von Joachim Braun

#BuchdesMonats #Migration #Kopten

Ein Ägypter lebt als Immigrant in London. Er hat einen Job mit einem eigenen Büro, einem Schreibtisch und einem Computer, er arbeitet in der Wohnraumbehörde eines für seinen hohen Anteil an Einwanderern bekannten Bezirks. Aber anstatt Menschen eine Bleibe zu vermitteln, verzweifelt er an der Bürokratie: „Seit langem folgt sie der Logik, dass man die einen beschäftigt und die anderen in der Hoffnung belässt, dass eine Bearbeitungsrunde nach der anderen, wie lange sie sich auch hinzieht, eines Tages zu etwas führen könnte.“ Der Anruf eines Freundes verspricht seinem Leben einen neuen Sinn zu geben. Der Ägypter soll helfen, einen jungen Syrer zu beerdigen, der nach einer langen Flucht in London verstarb. Schmerzliche Erinnerungen werden wach, an die eigene Einwanderungsgeschichte, an die Kindheit als ausgegrenzter koptischer Christ in Kairo, als „verdammter Kreuzanbeter“.

* * *

Wie viele koptische Christen heute in Ägypten leben, ist unklar. Die Antwort auf diese scheinbar simple Frage hängt davon ab, wem sie gestellt wird. Die Angaben schwanken zwischen 8 und 15 Millionen. Man darf wohl von rund 10 % Bevölkerungsanteil ausgehen. Klar ist, dass mittlerweile unzählige Kopten in der Diaspora leben. Nicht erst seit dem sogenannten „Arabischen Frühling“ zu Beginn der 2010er-Jahre, sondern schon etwa 50 Jahre länger haben sie ihr Heimatland verlassen, um neue Perspektiven zu finden. Im Vereinigten Königreich leben etwa 20.000 koptisch-orthodoxe Christen, Tendenz steigend. Sie sind organisiert in drei Diözesen mit mehr als 30 Gemeinden. Erzbischof Angaelos von London ist seit 18. November 2017 im Amt.

Zu den von Ägypten nach London ausgewanderten Kopten zählt auch der Ich-Erzähler von Shady Lewis' Roman „Auf dem Nullmeridian“. Er hat einen Bürojob bei der Bezirksverwaltung und soll sich um die Zuweisung von Sozialwohnungen an Bedürftige kümmern. Sein bürokratischer Alltag wird jäh unterbrochen, als ihn ein alter Freund aus Kairo kontaktiert. Er bittet ihn, sich um die Beerdigung eines jungen Syrers zu kümmern, der nach einer abenteuerlichen Flucht in London gestrandet war. Das Schicksal des Flüchtlings weckt Erinnerungen an die eigene Vergangenheit als koptischer Christ in der mehrheitlich muslimischen ägyptischen Gesellschaft.

Der Ich-Erzähler berichtet von Erfahrungen der Ausgrenzung schon im Kindesalter, von den skurrilen Geschichten seiner Großmutter im dörflichen Ägypten, von der Emigration seines gläubigen Onkels nach Italien. Er erzählt aber auch von den Missverständnissen im ach so kultursensiblen, politisch korrekten, multikulturellen London: Da ist die Verwunderung der Arbeitskollegen, wie man als Ägypter Salamipizza essen und Alkohol trinken könne. Sei das nicht ḥarām? Da stellt ein Hobbyägyptologe die Frage, wie oft man als Ägypter schon bei den Pyramiden gewesen sei. Bestimmt schon oft?

Der Roman trägt autobiographische Züge, der Autor teilt die Migrationsgeschichte seines Ich-Erzählers. Shady Lewis wurde 1978 in Ägypten geboren. Der koptische Christ kam 2006 als Einwanderer nach London und arbeitete mehr als zehn Jahre bei der Stadtverwaltung. Die eigene Erfahrung, dass er anderen Migranten oft nicht weiterhelfen konnte, obwohl er im öffentlichen Dienst tätig war, führte zu seinem 2020 im arabischen Original erschienenen „Auf dem Nullmeridian“. Der versierte Übersetzer Günther Orth hat 2023 die bei „Hoffmann und Campe“ erschienene deutsche Version besorgt.

Der Buchtitel verweist auf eine Trennlinie. Der Nullmeridian von Greenwich ist die willkürlich durch Konvention 1884 festgelegte geographische Länge, die den Globus in Ost und West scheidet. Jeder Ort der Erde wird in seinem Bezug zu dieser unsichtbaren Linie gemessen, nach ihr werden die Uhren gestellt. Eine solche Vorstellung schafft Ordnung in der Welt, eine solch klare Einteilung gibt Orientierung. Doch was passiert, wenn jemand diese Trennlinie überschreitet, wenn er nicht ins selbstverständliche Weltbild passt, wenn er die festgelegten Kategorien sprengt?

Shady Lewis ist ein entlarvender Roman darüber gelungen, was es heißt, weder ankommen noch zurückkehren zu können. Er beleuchtet damit einen wesentlichen Aspekt der Lebenswirklichkeit orientalischer Christen, die einserseits als Migranten nach Europa kommen, aber andererseits bereits in zweiter und dritter Generation längst Teil der europäischen Gesellschaft(en) sind. So oder so werden sie von der Öffentlichkeit zu wenig wahrgenommen. Zu einer sensibleren Wahrnehmung regt „Auf dem Nullmeridian“ an. Es bleibt zu wünschen, dass Lewis' 2015 auf arabisch erschienenes Erstlingswerk „Die Wege des Herrn“, in dem er den Druck thematisiert, dem Ägyptens Kopten seitens des Staats und der Mehrheitsbevölkerung wie auch durch die eigene Kirche ausgesetzt sind, bald ebenfalls ins Deutsche übersetzt wird.

* * *

Shady Lewis
Auf dem Nullmeridian
222 Seiten
24,00 €
ISBN: 978-3-455-01572-0