In Ergänzung zu dem transdisziplinären Seminar „Alles fließt“ fand am 2. Juli 2024 der Besuch der Podiumsdiskussion „Klimakrisenschreiben“ am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) statt, wo Kathrin Röggla ihr Theaterstück Das Wasser vorstellte, das auch Gegenstand des Seminars von Friederike Reents (Neuere deutsche Literaturwissenschaft, KU), Joost van Loon (Soziologie, KU) und Kerstin Schlögl-Flierl (Moraltheologie, Umweltethik, Universität Augsburg) im gerade zu Ende gehenden Sommersemester war.
Ist die Klimakrise ein Zustand, der vorübergehen wird? Oder, literaturwissenschaftlich betrachtet, gar nur ein Paratext? Bringt sie nur Schmerz oder auch Hoffnung für den Menschen? Und wie kann eine künstlerische Imagination dazu beitragen, Ängste zu strukturieren? Zu Beginn der Veranstaltung stellte Kris Decker (Universität Luzern) die Frage in den Raum, welche Positionen und Funktionen die Klimakrise in der Literatur einnehmen könnte. Mit den aufgeworfenen Fragen zur Funktion und Position der Klimakrise in der Literatur stimmte er das Publikum zunächst auf die Lesung eines Ausschnitts aus dem Buch An der Grasnarbe (2022) von Mirjam Wittig ein.
Auch wenn der Titel des Buches – An der Grasnarbe – allein nicht erahnen lässt, dass es sich hier, genauso wie bei dem Theaterstück Das Wasser von Kathrin Röggla, um die Naturgewalt von Wasser handeln könnte, zog die Autorin die Zuhörenden mit ihrer Lesung direkt in den zerstörerischen Sog von Wasser hinein. Die Protagonist:innen des Romans, die wegen der zunehmenden städtischen Reizüberflutung von dort aufs Land gezogen sind, müssen mitansehen, wie eine vormals idyllische Naturlandschaft von der Extremwettersituation, von einem reißend gewordenen Fluss, zerstört wird. Auf die Frage von Laura Reiling (Kulturwissenschaftliches Institut Essen (KWI)), was es mit der titelgebenden Grasnarbe auf sich hätte, erläuterte Wittig, dass sie mit der Narbe die Zerstörung betonen wollte, wie der Boden gewaltsam aufgerissen wird und wie verletzlich dieser, aber auch das Leben der Menschen doch sei.
Dass das Thema Extremwetter keineswegs so neu ist, wie wir vielleicht denken, zeigte Simon Probst (Universität Vechta), der an das Buch Présence de la mort [Sturz in die Sonne] von Charles Ferdinand Ramuz erinnerte. Das 1922 entstandene Werk ist eine Reaktion auf den Genfer Hitzesommer des Jahres 1921. Die Protagonst:innen nehmen zwar aufgrund der Hitze Veränderungen in ihrem Alltag wahr, wissen jedoch weder, wie sie darauf reagieren können, noch wie sie damit umzugehen haben. Das Wetter stellt für sie etwas Merkwürdiges und Unheimliches dar, was nicht fassbar ist. Probst erläuterte, dass die zeitgenössische Leserschaft auch nicht recht wusste, was sie mit diesem Text anfangen sollte, weshalb das Buch schnell in Vergessenheit geriet. In der Podiumsdiskussion stellte er die Frage, wie wir unsere Leseweise auf bereits Bestehendes ändern könnten, und damit sehr grundsätzlich, ob wir uns einem klimakritischen Lesen heute überhaupt noch entziehen könnten. Aber brauchen wir denn überhaupt neue Texte, fragte daraufhin provokant Solvejg Nitzke (Ruhr Universität Bochum), wenn doch schon alles vorhanden sei. Er plädiere keineswegs, so Probst, für ein anachronistisches Lesen von Texten, jedoch müsse er jedes Mal schmunzeln, wenn es heißt, dass gute Texte zum Klimawandel erst noch geschrieben werden müssten. Vielmehr ginge es doch immer darum ältere Werke mit der Frage „Was können uns diese Texte für die heutige Zeit sagen?“ zu lesen. Solvejg Nitzke sieht das Potential von älteren Texten darin begründet, dass sie mit heutigen, im Zuge der Klimakrise gemachten Erfahrungen, bebildert und dadurch als „Archive der Erfahrungen“ erfasst werden könnten. Mirjam Wittig hielt dagegen, es bedürfe durchaus neuerer Texte, da die Wissenschaft uns tagtäglich mit neuen Fakten zum Klimawandel versorge und dennoch entstehe daraus offensichtlich keine Motivation, die uns zum Handeln bringt. Der Mensch sei für sie ein Hummer, der nicht bemerkt, dass er gekocht wird, beziehungsweise erst dann, wenn es zu spät ist. Kathrin Röggla betonte hingegen, dass auch sie sich nur einer bereits bestehenden Geschichte – die biblische Erzählung von Jona und dem Wal – bedient und lediglich eine neue Folie darübergelegt hätte. Aber eigentlich seien bei der biblischen Geschichte bereits alle Stationen der heutigen Klimakrisendebatte vorhanden – eine Botschaft, die Verweigerung dieser, die Flucht, ein Unwetter und die Frage nach der Schuld.
Solvejg Nitzke brachte für die Podiumsdiskussion das Werk Weather [Wetter] (2020) von Jenny Offill mit, in dem eine Bibliothekarin für einen Podcast Stimmen zum Klimawandel sammelt. Diese verunsichern die Protagonistin in solch einem Maß, dass sie stetig überlegt, wie sie ihre eigene Familie vor möglichen klimatischen Katastrophen bewahren kann. Für Nitzke ist dieses Werk deswegen so herausragend, da es die Schnittstelle zwischen der Doppelbelastung mütterlicher Fürsorge (Care-Arbeit) und Rettung des Klimas aufzeigt. Ob das sehr offene Ende des Buches (unzusammenhängende Aussagen und ein Link zu einer Website) hoffnungsvoll oder hoffnungslos sei, wollte Laura Reiling von Nitzke wissen. Lachend entgegnete Nitzke, dass die meisten Klimaromane so enden würden, wenn ihnen vom Lektorat nicht stetig gesagt werden würde: „So kannst du nicht aufhören!“ Für sie sei das Buch von Hoffnung getragen, da es zeige, wie im Alltag – auch wenn es kein allumfassender Beitrag zu einer Gesamtlösung sei – Strukturen gefunden werden können, wie man etwas zur Klimarettung beitragen und gleichzeitig die eigene Familie vor einer Katastrophe schützen könne, denn irgendeine Art von Hoffnung müsse es immer geben.
Den Abschluss der Podiumsdiskussion bildete schließlich Kathrin Röggla mit besagtem Theaterstück Das Wasser (2023). Bevor sie zwei Akte aus ihrem Werk vorlas, betonte sie, wie wichtig das in Berlin gegründete Projekt „Theater des Anthropozäns“ sei, das sich dezidiert mit der Beziehung zwischen Mensch und Natur im Anthropozän befasst und sowohl die Verletzlichkeit der Natur als auch das zerstörerische Potential des Menschen sichtbar machen möchte. Hierbei versuchen Wissenschaftler:innen und Künstler:innen kollaborativ wissenschaftliche Fakten mithilfe von Theaterstücken zu übersetzen. Dennoch sei sie der Meinung, dass die Jahrhundertflut, die der Mensch auch ernst nehmen wird, erst die sei, die eine ganze Großstadt mit ihren Bewohner:innen umbringt, denn „der Meeresspiegel hat draußen zu bleiben aus dem Stadtdiskurs“, wie es auch in dem Stück heißt. Mit den verschiedenen Akten, die Röggla als „Bilder“ betitelt, wollte sie verschiedene Erfahrungsebenen von Gesellschaftsschichten sichtbar machen. Sie basieren auf realen Unterhaltungen mit Nachhaltigkeitsvereinen, der Umweltbehörde in Dresden und Umgebung und Klimaaktivist:innen, die sie im Zuge ihrer Auftragsarbeit, die sie von der Leiterin des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven und Erdsystemforscherin Antje Boetius und dem Autor und Regisseur Frank Raddatz erhielt, geführt hat.
In allen vorgestellten Texten herrsche eine große Unordnung, die jedem von uns bekannt vorkomme, so Solvejg Nitzke am Schluss, und dennoch dominiere die Unfähigkeit des Menschen zu handeln, auch wenn er stetig nach Strukturen suche, um irgendwie Ordnung zu schaffen. Bei all dem Chaos sinnierte Mirjam Wittig zuletzt wenig hoffnungsvoll, ob man dies überhaupt noch erleben möchte oder ob ein Einbunkern im metaphorischen Bauch des Wales, wie in Rögglas Stück, nicht sinnvoller wäre.
Paula Radnitz