Am 28. Oktober 2016 findet an der Freien Universität Berlin unter dem Titel "Ästhetiken der Liminalität. Die transformative Kraft von Werken der bildenden Kunst in Spätmittelalter und Früher Neuzeit" ein Workshop des DFG-Projektes "Ästhetiken des fremden Heiligen" der DFG Forschergruppe 1703 „Transkulturelle Verhandlungsräume von Kunst“ statt.
Der Beitrag von Prof. Dr. Jürgen Bärsch lautet: "Spätmittelalterliche Prozessionen als anamnetische Figuren: Liturgiewissenschaftliche Beobachtungen zur Lichterprozession am Fest Purificatio Mariae (2. Februar)"
Diese Überlegungen fügen sich ein in die Fragestellungen des Projektes, die sich mit Liminalität in diesem Kontext beschäftigen. Liminalität bezeichnet eine Schwellen- und Transformationsphase, die die alltägliche Ordnung, ihre Werte und Symbole temporär destabilisiert, außer Kraft setzt oder in ihr Gegenteil verkehrt. In gesellschaftlichen Übergangsriten, wie Hochzeiten, Beisetzungen, Investituren, etc., geht die Phase der Liminalität mit einer kurzzeitigen Aussetzung sozialer Hierarchien und Vorschriften einher, die einen Moment spontaner Vergemeinschaftung (communitas) hervorrufen kann und es Individuen oder Gruppen ermöglicht, nach der Wiedereinsetzung der Ordnung, d.h. in der post-liminalen Phase, einen anderen sozialen Status einzunehmen. Das Arbeitstreffen fragt nach der Funktion von Werken der bildenden Kunst in derartigen sozialen Schwellenzuständen. Zwei Aspekte stehen dabei besonders zur Diskussion: Einerseits möchten wir den konkreten Einsatz von Kunst- und Bildwerken in liminalen Räumen bzw. bei der Erzeugung und Abwicklung von Schwellensituationen untersuchen, andererseits danach fragen, inwieweit die Werke selbst als Medien der Liminalität bzw. als Objekte liminaler Erfahrung beschrieben werden können.
Ein zentrales Untersuchungsfeld bietet die Inszenierung multisensueller Erfahrungen während ritueller oder liturgischer Handlungen, die in architektonischen, die sinnliche Wahrnehmung strukturierenden Rahmen stattfinden. Das sind beispielsweise Orte wie Grabkapellen, Kreuzgänge oder Vorhallen, die Bestattung und Totenkult dienen. Inwiefern sind die für diese Räume bestimmten Kunstwerke – Grabmäler, Wandbilder oder Mobiliar – auf die dort verhandelten ‚Ausnahmezustände‘ und das rituelle Zusammenspiel von Sprache, Musik, Geräuschen, rhythmischer Bewegung, Lichteffekten und Gerüchen hin konzipiert? Welche Bedeutung erhalten die Werke (mit ihren immanenten ästhetisch-semantischen Strukturen) im Kontext der jeweiligen rituellen Handlungen und der durch sie gestifteten bzw. affirmierten gesellschaftlichen Ordnungen?
Seitens der Kunstwissenschaften ist das von der Ritualforschung entwickelte Konzept der Liminalität auf die Analyse künstlerischer Objekte übertragen und ästhetische Erfahrung selbst als Schwellenerfahrung beschrieben worden. Ist den Kunstwerken mithin ein liminales Potential inhärent, das im Vorgang ihrer rituellen Einbindung und Wahrnehmung freigelegt und akzentuiert wird? Spricht nicht gerade die Dauerhaftigkeit künstlerisch fixierter Zeichen vielmehr dafür, dass Kunstwerke primär einer Stabilisierung der herrschenden gesellschaftlichen Ordnung dienen? In einem zweiten Schritt möchten wir daher diskutieren, unter welchen Voraus- und Zielsetzungen Objekte der bildenden Kunst gesellschaftliche Kräfte entfalten und ob es Formen und Ausdrucksmodi gibt, die darauf angelegt sind, liminale Erfahrungen hervorzurufen oder zu befördern.