Verworrenes Geschichtsdenken - lassen sich Demokratien mit totalitären Diktaturen vergleichen?

Die amerikanische Kulturkritikerin Naomi Wolf gab vor kurzem der Süddeutschen Zeitung ein Interview, in dem sie die heutige amerikanische Situation unentwegt mit der Lage Deutschlands in den 1930er Jahren verglich („Ich vergleiche Bush nicht mit Hitler, ich ziehe nur Parallelen“, SZ vom 9.11.2007). Dabei geht es bei diesem Vergleich nicht um die krisengeschüttelte Weimarer Demokratie der Jahre 1930-1933, sondern um die 1933 errichtete Hitler-Diktatur.

Die USA in der Ära von George W. Bush werden also mit einem Staat verglichen, in dem sich das Parlament infolge des Ermächtigungsgesetzes vom 23. März 1933 in eine Marionette verwandelte, in dem die politischen Parteien bis auf die herrschende aufgelöst, die freien Gewerkschaften zerstört und die freien Medien gleichgeschaltet wurden. Von diesem Zeitpunkt an durfte der Kurs der Regierung nur durch Anspielungen, nur zwischen den Zeilen kritisiert werden, wie dies z.B. die Frankfurter Zeitung tat.

Die 30er Jahre in Hitler-Deutschland – das sind auch die Konzentrationslager, die Nürnberger Gesetze, die Novemberpogrome von 1938 und schließlich die per Führer-Ermächtigung vom Oktober 1939 begonnene Ermordung der psychisch Kranken, die von den NS-Ideologen in die Kategorie „lebensunwertes Leben“ eingeordnet wurden (Vgl. dazu Norbert Frei, Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933 bis 1945, München 1989, S.143; Ian Kershaw, Hitler 1936-1945, Stuttgart 2000, S.349f.).

Außerhalb Deutschlands wird das NS-Regime in den ausgehenden 30er Jahren mit den „Einsatzgruppen“ an der Ostfront assoziiert, die „bereits Mitte September 1939 ihren Vernichtungskampf [gegen die] geistige und geistliche Oberschicht Polens“ begonnen haben. Später – in den 1940er Jahren – sollte diesem Vernichtungsfeldzug beinahe die gesamte jüdische Bevölkerung der Region zum Opfer fallen (Friedrich Battenberg, Das Europäische Zeitalter der Juden. Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas. Teilband II, Darmstadt 1990, S.288; siehe dazu auch u.a.Helmut Krausnick/Hans-Henrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938-1942, Stuttgart 1981).

Was veranlaßt Frau Wolf zu einem so gewagten Vergleich eines demokratischen Staates mit einer totalitären Diktatur? Sie sagt: „[Diese] Regierung [hat] sieben Jahre lang den Gesellschaftsvertrag unserer Demokratie mit Füßen getreten [...]. Sie geht einfach davon aus, daß wir das nicht bemerken. Und da soll ich als Amerikanerin nicht das Recht haben, das mit Hitler in den Dreißigern zu vergleichen?“. Versuche der Bush-Administration Bundesanwälte zu entlassen, werden mit den „Maßnahmen Goebbels´“ verglichen. Dann fügt sie noch folgendes hinzu:“ Oder nehmen sie die Ärzte, die Folter unterstützt haben. Ärzte und Psychiater, die per Eid dazu verpflichtet sind, niemandem Schaden zuzufügen, und die per Unterschrift Praktiken zulassen, die das Rote Kreuz als Folter klassifiziert. Solche Ärzte gab es auch in Deutschland“.

Zwar versucht Frau Wolf diese Aussage etwas zu relativieren und erklärt: „[Das] ist kein Vergleich, sondern eine Parallele“. Diese Kasuistik vermag aber nicht zu überzeugen. Auch dem Gesprächspartner von Naomi Wolf ist nicht ganz klar, welcher Unterschied zwischen einer Parallele und einem Vergleich bestehen soll.

Zur Verwirrung trägt auch die Tatsache bei, daß Naomi Wolf die Regierung Bush nicht nur mit dem NS-Regime, sondern auch mit einer anderen totalitären Diktatur, nämlich mit dem Regime Stalins vergleicht. Sie zieht z.B. eine Parallele zwischen der US-amerikanischen Bekämpfung des Terrorismus und der stalinistischen Jagd nach den„Staatsfeinden“: „Das gab es auch unter Stalin, diese ständig veränderbare Definition eines Staatesfeindes, eines Subversiven, eines Saboteurs“. So werden die USA von heute mit einem Regime verglichen, das allein in den Jahren 1937/38 mehr als 680.000 angebliche „Volksfeinde“ hinrichten ließ (A.Artizov u.a., Reabilitacija. Kak eto bylo, Moskau 2000, S.317).

Dies allein zeigt, wie abwegig die Gedankengänge Naomi Wolfs sind. Sie versucht das Unvergleichbare miteinander zu vergleichen, was sie zu einem logischen Fehlschluß nach dem anderen verleitet. Denn Demokratien, auch wenn sie von Krisen geschüttelt sind, befinden sich institutionell und strukturell quasi auf einem anderen Planeten als totalitäre Diktaturen. Zum Wesen der totalitären Regime gehört nicht nur eine partielle Aushöhlung der politischen und gesellschaftlichen Kontrollmechanismen, wie dies in Demokratien gelegentlich geschieht, sondern deren gänzliche Ausschaltung. Die Tatsache, daß die zerstörerische und selbstzerstörerische Politik Hitlers erst durch die überlegene Militärmacht der Siegermächte und diejenige Stalins erst nach dem Tode des Diktators gestoppt werden konnte, ist mit dieser gänzlichen Zerstörung der innenpolitischen Kontrollmechanismen verbunden. Die USA von heute verfügen hingegen über eine unüberschaubare Fülle solcher Kontrollinstanzen – die beiden Kammern des Parlaments, die unabhängige Gerichtsbarkeit, föderale Strukturen, Selbstverwaltungsorgane und last but not least: die freie Presse – die „vierte Gewalt“. Eine offene Anprangerung der Politik Stalins oder Hitlers, wenn man von solchen Ausnahmen wie Bischof von Galen absieht, stellte für die Kritiker in der Regel ein Todesurteil dar. Die radikale Kritik am Vorgehen der Bush-Administration füllt tagtäglich unzählige Spalten der amerikanischen Presse. Diejenigen, die diese grundlegenden Unterschiede als irrelevant abtun, befinden sich in einer konstruierten Pseudowirklichkeit, in der die wahren Sachverhalte praktisch auf den Kopf gestellt werden. Einen solchen gespenstischen Eindruck vermitteln auch die Gedankengänge von Frau Wolf. 80 Jahre mühsamer Versuche der Politik- und Geschichtswissenschaft, totalitäre Systeme zu definieren, ihre Unterschiede zu den autoritären Regimen hervorzuheben, den unterschiedlichen Charakter der totalitären Diktaturen rechter und linker Prägung zu analysieren – all das ist an Frau Wolf spurlos vorübergegangen. Sie wirft alle Diktaturen (lateinamerikanische, pakistanische, stalinistische, nationalsozialistische) in einen Topf: „Die Tyrannen, egal ob sie von rechts oder links kommen, folgen denselben Mustern, um die Demokratie auszuhebeln“. Aber sie begnügt sich nicht nur damit, sondern ordnet, wie oben gezeigt, auch das amerikanische System unter George W.Bush im Grunde in dieselbe Kategorie ein.

In gewisser Weise erinnert die „Diktatur“-These von Frau Wolf an die „Sozialfaschismus“-These, die in der von Stalin beherrschten Kommunistischen Internationale Ende der 20er/Anfang der 30er Jahre vorherrschte und die die Sozialdemokratie und den Nationalsozialismus als verwandte Phänomene definierte. Erst nach der nationalsozialistischen Machtübernahme mußten die Kommunisten allmählich feststellen, daß zwischen dem sogenannten „Sozialfaschismus“ und dem Nationalsozialismus doch ein qualitativer Unterschied bestand. Der Begriff „Faschismus“ wurde aber durch seinen inflationären Gebrauch weitgehend ausgehöhlt. Ähnliche Folgen könnte eine inflationäre Anwendung des Begriffs „Diktatur“ haben, wie sie von Frau Wolf praktiziert wird.

Und noch eine abschließende Bemerkung: Die Tatsache, daß die äußerst fragwürdigen Thesen Naomi Wolfs von ihrem Interviewer, bis auf wenige Ausnahmen, kaum in Zweifel gezogen werden, stellt kein Ruhmesblatt für den kritischen Journalismus dar.

Leonid Luks