"Volksparteien erscheinen in Zeiten von Individualisierung schwerfällig und veraltet"

Bei der bayerischen Landtagswahl hat die CSU im Vergleich zu 2013 über zehn Prozent an Stimmenanteilen verloren. Schon die Umfragewerte im Vorfeld kündigten eine historische Niederlage der Partei an, die über Jahrzehnte hinweg allein regierte. Ein Gespräch mit der Politologin Dr. Eveline Hermannseder über den Wandel von Volksparteien, der nun auch die CSU erreicht hat.

Bei der Landtagswahl erzielte die CSU ein Ergebnis von gut 37 Prozent. Von solchen Werten sind andere Parteien in der Regel weit entfernt. Doch in der Partei herrschte schon angesichts der Umfragewerte großer Druck.

Ja, andere Parteien sind davon weit entfernt, waren aber auch nie so lange allein an der Regierung wie die CSU. Seit 1962 bis heute – mit Ausnahme von 2008-2013 – hat sie durchgehend alleine in Bayern regiert. Selbstverständlich wollte sie das auch weiterhin tun. Nun braucht sie einen Koalitionspartner. Das Problem in der Partei ist meines Erachtens ein zweiseitiges: Die ältere Generation sieht in der Flüchtlingsthematik durchaus nicht „Die Mutter aller Probleme“, ebenso wenig wie die jüngere Generation. Die Älteren wünschen sich von der CSU einen höheren Stellenwert der Renten-, Pflege- und Gesundheitspolitik, während die Jüngeren vergeblich auf eine Verjüngung der Partei warten. In Zeiten der Beliebtheit von Politikertypen wie Macron, Kurz und Lindner sieht Söder doch ziemlich alt aus. Die CSU hatte mit Guttenberg bereits einmal einen solchen Kandidaten.

Sie haben in Ihrer Doktorarbeit unter dem Titel „Europas letzte große Volksparteien“ die Entwicklung der CSU und der Südtiroler Volkspartei SVP vergleichend analysiert. Welche Funktion haben Volksparteien im politischen System?

Volksparteien haben unterschiedliche Funktionen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelten sie – zumindest in Deutschland – ein sehr hohes Wählerbindungspotential, da sie mit ihren gemäßigten, entideologisierten Programmen die Mitte der Gesellschaft trafen, weg von NS-Diktatur und Extremismus ebenso wie von dem Gespenst des Kommunismus. Grundlage für diese Entwicklung sei, so Otto Kirchheimer (der bekannteste Vertreter dieses Typs) der gesellschaftliche Wandel aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs und dem damit einhergehenden Ausbau der sozialen Sicherungssysteme gewesen, wodurch sich Klassenkonflikte abgeschwächt hätten. Darüberhinaus habe auch die zunehmende Säkularisierung eine bedeutende Rolle gespielt.

In Südtirol erfüllte die SVP vorrangig die Aufgabe, eine starke Autonomie zu erlangen, mit einer Stimme zu sprechen und sich gegen das Feindbild des italienischen Staates zu behaupten. Ähnliche Tendenzen der Abgrenzung lassen sich auch in Bayern beobachten, Stichwort „Mia san mia“. Dieses Konzept funktioniert aber inzwischen sowohl in Südtirol als auch in Bayern immer weniger. Die starke Autonomie ist in Südtirol inzwischen umgesetzt, der Filz der SVP aber geblieben.

Heute ist es schwierig zu sagen, welche Funktionen Volksparteien in einem politischen System überhaupt noch erfüllen, da sie kaum noch existieren und in Zeiten von Individualisierung und punktueller Bürgerbeteiligung auch eher schwerfällig und veraltet erscheinen. Es gibt zwar in der Politikwissenschaft keine klare Definition, ab welcher Stimmenzahl eine Partei als Volkspartei gilt, es rangieren lediglich Werte zwischen 25% und 40%, aber welche Partei erreicht diese noch? Die CDU schaffte bei den letzten Bundestagswahlen mit Ach und Krach gerade einmal knapp 27% - und war damit stärkste Kraft. Vor der Frage nach den Funktionen müsste eher die Frage nach der Existenz von Volksparteien stehen.

 Welchen Wandel durchlief die CSU inhaltlich und strukturell in den vergangenen Jahrzehnten? Ist der Begriff „Volkspartei“ immer noch passend?

Strukturell hat die Partei sicherlich Federn gelassen, ihr Organisationsgrad sank in den letzten Jahrzehnten ebenso wie ihre Mitgliederzahl (höchster Wert 1987/88 mit 184.000, niedrigster Wert 2017 mit knapp 141.000 Mitgliedern). Dennoch ist sie in Bayern strukturell gut aufgestellt. Insgesamt ist die Wählerschaft der CSU in den letzten Jahrzehnten säkularer, gebildeter, älter und mittelständischer geworden.

Inhaltlich ist besonders der wirtschaftliche Aufstieg Bayerns vom Agrarland zu einem hochtechnologisierten Wirtschaftsstandort auch der CSU zuzuschreiben. Als andere Volksparteien sich bereits längst auf dem absteigenden Ast befanden, hat die CSU-Wählerschaft ihre Partei über die Jahre mit immer stärkeren Mehrheiten, 2003 sogar mit einer Zweidrittelmehrheit für den Landtag, ausgestattet. Viele bayerische Bürger verbinden den kometenhaften wirtschaftlichen Aufstieg ihrer Heimat mit der CSU. Eine weitere Erklärung für die bayerische CSU-Vorherrschaft liegt damit in den programmatischen Erneuerungsmechanismen der Partei, die gleichzeitig den Eigenheiten, Identitäten und Traditionen ihrer Wähler große Bedeutung beimisst. Inwiefern sie das in Zukunft schafft, bleibt abzuwarten.

Was hat zu einem Rückgang der Stammwählerschaft geführt und wer hat davon profitiert?

Im Fall der CSU spielt neben den allgemein geltenden Ursachen für den Rückgang der Stammwählerschaft von Volksparteien - wie dem Wertewandel, der Ausdifferenzierung der Gesellschaften, Individualisierungsprozesse, der Zunahme von Parteienverdrossenheit (nicht Politikverdrossenheit (!)), der Beschränkung auf befristete, thematisch konkrete Partizipationsformen beispielsweise in Bürgerinitiativen - noch ein weiterer wichtiger Punkt eine Rolle: der Rückgang der Kirchenbindung und Kirchgangshäufigkeit. Von Legislaturperiode zu Legislaturperiode lassen sich hier zusätzlich auch noch thematisch-programmatische und personelle Gründe anführen. Profitiert haben davon bisher meist die Parteien, die der CSU programmatisch am nächsten stehen wie die FDP und die FW, aktuell aber auch die Grünen und die AfD.

Welche Perspektiven sehen Sie langfristig für Volksparteien?

Volksparteien werden wohl langfristig keinen Bestand haben, dafür sind die Gesellschaften inzwischen zu heterogen und multikulturell.

Interview: Constantin Schulte Strathaus

Zur Person: Dr. Eveline Hermannseder ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft der KU. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Volksparteien und Parteien sowie deutsche Minderheiten in Europa. Für ihre Doktorarbeit verglich sie die Entwicklung die Entwicklung der CSU und der Südtiroler Volkspartei.