Experten kritisieren Pläne für Grundschulreform

Musikunterricht in der Grundschule
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Das bayerische Kabinett plant eine Reform des Stundenplans in den Grundschulen: Als Reaktion auf das schlechte Abschneiden in der „Pisa“-Studie soll es mehr Stunden in Deutsch und Mathe geben – dafür sollen Kunst, Musik und Werken zu einem Fächerverbund zusammengelegt werden. Außerdem soll das Fach Englisch von wöchentlich zwei auf eine Stunde reduziert werden. Seit Bekanntwerden dieser Pläne wird heftig diskutiert. Für Rainer Wenrich, Professor für Kunstpädagogik an der KU, ergibt sich daraus das Bild, „dass die Fächer Kunst und Musik weiterhin unbequeme Gäste im Schulhaus bleiben, über deren Verbleib sich niemand wirklich sicher ist“. KU-Musikprofessor Daniel Mark Eberhard wirbt anstelle einer Kürzung von Schulstunden in Musik für eine Implementierung des Unterrichtsprinzips Musik über den Fachunterricht hinaus. Musik könne Lernprozessen in allen Fächern unterstützen und eine altersgerechte, ganzheitliche und nachhaltige Bildung gewährleisten. Professor Heiner Böttger, Fachvertreter Englisch-Didaktik, verweist auf die Ergebnisse von großen Langzeitstudien, wonach Englisch in der Grundschule keinesfalls zulasten von Deutsch- und Mathematikkenntnissen gehe. Vielmehr könne beim Erwerb zweier Sprachen ein Zuwachs an kindlichen kognitiven Kompetenzen nachgewiesen werden, der sich auch auf Lernprozesse in anderen Fächern positiv auswirke.

Daniel Mark Eberhard
Daniel Mark Eberhard

Prof. Dr. Daniel Mark Eberhard, Inhaber der Professur für Musikpädagogik und Musikdidaktik an der KU, weist darauf hin, der schulische Bildungsauftrag sei „verfassungsrechtlich verankert und umfassend“, indem er nicht nur fachliche, sondern auch soziale und persönliche Zielsetzungen einschließt. Er hebt hervor, durch ästhetische Bildung werde die Wahrnehmung geschult, auch würden „spezifische, unersetzbare Modi menschlicher Selbst- und Welterfahrung“ ermöglicht. Vor dem Hintergrund einer immer komplexer und dynamischer werdenden Welt solle daher anstelle einer Kürzung des Musikunterrichts vielmehr über das Unterrichtsprinzip Musik in allen Fächern nachgedacht werden. „So könnte Musik über den Fachunterricht hinaus zur Unterstützung von Lernprozessen in allen Fächern beitragen und eine altersgerechte, ganzheitliche und nachhaltige Bildung gewährleisten, die auch auf soziale Unterschiede Rücksicht nimmt“, so Eberhard, der auch Mitglied im Bundesfachausschuss Bildung des Deutschen Musikrates ist. Unter Unterrichtsprinzipien verstehe man handlungsleitende Grundsätze der Unterrichtsgestaltung wie zum Beispiel Aktivierung, Handlungsorientierung, Schülerorientierung, Sachorientierung oder Elementarisierung, die für alle Fächer Gültigkeit haben. Daniel Eberhard plädiert dafür, gerade im Grundschulalter Musik eine grundsätzliche Bedeutung zuzuschreiben: „Durch Musik können nicht nur Lernvorgänge in allen Fächern unterstützt, sondern auch außermusikalische Zielsetzungen, etwa im Bereich persönlicher und sozialer Kompetenzen gestärkt werden.“

Rainer Wenrich
Rainer Wenrich

Auch Prof. Dr. Rainer Wenrich, Inhaber der Professur für Kunstpädagogik und Kunstdidaktik, äußert Bedenken hinsichtlich der Reaktion Bayerns auf die jüngsten Pisa-Ergebnisse. Die geplante "Pisa-Offensive" für Grundschulen falle „einem unglücklichen Wording in mehrfacher Hinsicht zum Opfer“, so Wenrich. Er verweist darauf, dass in dem Papier zur „Pisa-Offensive“ häufig von der Bedeutung ganzheitlicher Bildung gesprochen werde. Dazu gehöre „in jedem Fall und aus vielerlei belegbaren Gründen“ aber auch die ästhetische Bildung. „Ist man sich im Klaren darüber, wie die aktuelle Kommunikation nach außen wirkt, die den Anschein erweckt, dass eine über Jahrzehnte anhaltende und umfangreiche Forschungshistorie inklusive aussagekräftiger Forschungserkenntnisse es eigentlich ausschließen müsste, die Fächer Kunst, Musik und Gestaltung in einer geplanten neuen Stundentafel der bayerischen Grundschule zur 'Verfügungsmasse' im Fächerverbund zu machen?“, fragt sich Wenrich. Zwar werde im Konzept die Flexibilität betont, um bestmögliche Förderung sicherzustellen. „Aber die Kernbotschaft ist einfach negativ konnotiert – es klingt nach Kürzung des Fachunterrichts in Kunst und Musik, und dies wird es in der Realität vielerorts auch bedeuten.“

Begrüßenswert sei es, dass die „Pisa-Offensive“ das Ergebnis eines intensiven Dialogs mit der Wissenschaft oder auch der Schulfamilie sei. Wenrich bemängelt allerdings, dass Verantwortliche für die Fächer Kunst und Musik an den bayerischen Hochschulen und Universitäten zu wenig einbezogen wurden. „Im Dialog mit den Fachvertretenden von Kunst und Musik wäre es offenkundig geworden, in welchem Umfang bereits über fachübergreifende und fächerverbindende Potentiale, über Weiterentwicklungen und auch Neudenken der ästhetischen Bildung geforscht und publiziert wird – natürlich mit dem Ziel, die Kinder und Jugendlichen mit den notwendigen Kompetenzen für ihr zukünftiges Leben auszustatten.“ Am Ende ergebe sich das Bild, „dass die Fächer Kunst und Musik weiterhin unbequeme Gäste im Schulhaus bleiben, über deren Verbleib sich niemand wirklich sicher ist“.

Petra Hiebl
Petra Hiebl

Der Fokus auf eine Stärkung der Kernfächer der Grundschule, Deutsch und Mathematik, sowie die wissenschaftliche Fundierung von Diagnose- und Förderinstrumenten sei grundsätzlich zu begrüßen, sagt Dr. Petra Hiebl, die Leiterin des Zentrums für Lehrerinnen- und Lehrerbildung der KU. Erfreulich sei auch, dass die frühkindliche Förderung betont werde. „Es ist evident, dass sie für gelingende Bildungsprozesse eine wesentliche Rolle spielt“, so die Grundschuldidaktikerin. Generell sei auch die Übertragung von Verantwortlichkeiten zur Planung von Unterricht an die Schulen sinnvoll. Jedoch, so warnt Hiebl, nehme die geplante Überarbeitung der Stundentafel und „Flexibilisierung“ in den musisch-kreativen Fächern den Kindern davon, was sie dringend brauchen: den Raum für Kreativität und Persönlichkeitsentfaltung. „Die musisch-kreativen Fächer leisten zu einer ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung und zum Auftrag der Grundschule, nämlich einer grundlegenden Bildung, einen wichtigen Beitrag.“ Zu bedenken sei hierbei, dass nicht jedes Kind vom Elternhaus mit zusätzlichen Angeboten in Musik, Kunst oder auch Werken und Gestalten gefördert werde, was zu ungleichen Startchancen der Kinder führe.

Aus Sicht der Lehrerbildung sei für einen qualitätsvollen Unterricht vor allem eine gute Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte notwendig – und ausreichend Personal an den Schulen, sagt Petra Hiebl „Die Anforderungen an Grundschullehrkräfte wie auch an die Schulleitungen sind in den letzten Jahren immens gestiegen: Inklusion, Digitalisierung, Migration, ganztägige Beschulung – um nur einige Themen zu nennen – zeigen das Spektrum, das bewältigt werden muss.“ Kontraproduktiv sei es da, dass derzeit an vielen Grundschulen mit Aushilfslehrkräften, unter ihnen viele Studierende, zwar Unterrichtsausfälle kompensiert werden, die Reflexion hinsichtlich Unterrichtsqualität jedoch oft nicht gewährleistet werde.

Heiner Böttger
Heiner Böttger

Auch Vertreter des Faches Englisch sehen die Pläne des bayerischen Kultusministeriums kritisch. Prof. Dr. Heiner Böttger, Inhaber der Professur für Didaktik der englischen Sprache und Literatur, verweist darauf, dass das Fach Englisch am stärksten von den Streichungen in der Stundentafel betroffen sei, wenn der Unterricht wöchentlich von zwei auf eine Stunde reduziert werde. Dass mit dieser Maßnahme Defizite in Deutsch und Mathematik kompensiert werden sollen, sei für ihn nicht nachvollziehbar. Mehrere großangelegte empirische Studien „mit Tausenden von Grundschulkindern“ zeigten deutlich „die großartigen fremdsprachlichen Lernerfolge unsere Kinder und damit auch der beteiligten Lehrkräfte auf“. Böttger verweist unter anderem auf das Modellprojekt „Bilinguale Grundschule Bayern“ mit Englisch oder Französisch ab der ersten Klasse, das von der Eichstätter Professur für Englischdidaktik in einer fünfjährigen Langzeitstudie mit nahezu tausend Kindern wissenschaftlich begleitet wurde. „Im Ergebnis kam heraus, dass trotz des Lernens in zwei Sprachen die beteiligten Kinder im Fach Deutsch in den bundesweiten Standardtest abschnitten wie in den Jahren zuvor, sich also nicht verschlechterten“, so Böttger. In Mathematik hätten die Kinder in Tests sogar deutlich über bundesweiten Vergleichswerten gelegen. „Besonders gut schnitten die Kinder mit Migrationsgeschichte ab. Im Fach Englisch entwickelten sie in der Spitze Kompetenzen wie Sechstklässer vergleichbarer Gymnasien.“

Die Studien, die nun zur Begründung für eine Reduzierung des Englisch-Unterrichts zitiert würden, verglichen die englischsprachigen Leistungen der Jugendlichen in der 7. und 9. Klasse weiterführender Schulen mit teils hohem zeitlichem Abstand von drei bis fünf Jahren zur Grundschulzeit. Hieraus Rückschlüsse bezüglich der Erfolge der lange zurückliegenden Lernprozesse in der Grundschule zu schließen, sei „wissenschaftlich nicht valide, wegen der vielen möglichen Variablen in der langen Zeit eigentlich sogar dilettantisch“, kritisiert Böttger. Er verweist darauf, dass ein deutlicher Zuwachs an kindlichen kognitiven Kompetenzen beim Erwerb zweier Sprachen durch jahrzehntelange Forschung nachgewiesen sei. Und dies wirke sich positiv auf die Lernprozesse auch in Mathematik oder Deutsch aus. „Mit der Entscheidung begibt sich das frühe Fremdsprachenlernen in Bayern freiwillig auf die Position als Schlusslicht aller Bundesländer was den Umfang des Fremdsprachenunterrichts im Stundenplan anbelangt“, so Böttger.