Wie definiert man einen „Schurkenstaat“?

Zum Artikel von Hans Ulrich Gumbrecht „Präsident im Schatten“ (F.A.Z. vom 19.Januar):

In seinem Lob auf den Präsidenten Barack Obama versucht Hans Ulrich Gumbrecht dessen Amtszeit von derjenigen seines Vorgängers abzuheben und schreibt: „Mit einem Mal war das unter George W. Bush im internationalen Ansehen gleichsam zum ´Schurkenstaat´ abgestiegene Amerika wieder zu einem weltweite Hoffnungen inspirierenden ´Land der unbegrenzten Möglichkeiten´ geworden“.

Es ist allerdings fraglich, ob die Übertragung des Begriffs „Schurkenstaat“ auf die USA in der Amtszeit von George W. Bush eine Art Allgemeingut im internationalen Diskurs darstellte. Als „Schurkenstaaten“ wurden in solchen Debatten in der Regel Diktaturen bezeichnet, die das System von checs and balances  in ihrem jeweiligen Machtbereich gänzlich aus den Angeln hoben und dadurch jegliche  gesellschaftliche Kontrolle ihrer, oftmals abenteuerlichen Politik, unmöglich machten. Nichts dergleichen traf in Bezug auf die USA in den Jahren 2001-2009 zu. Auch zu dieser Zeit verfügte das Land über eine Fülle von Kontrollinstanzen – die beiden Kammern des Parlaments, die unabhängige Gerichtsbarkeit, föderale Strukturen und Selbstverwaltungsorgane – , die durchaus in der Lage waren, der Exekutive zu zeigen, dass ihre Machtfülle keineswegs unbegrenzt war. Abgesehen davon stellte die „vierte Gewalt“  – die unabhängige Presse –, die auch in der Ära Bush Jr. ungehindert agieren konnte, eine zusätzliche Kontrollinstanz dar. Die scharfe Kritik am Vorgehen der Bush-Administration füllte tagtäglich unzählige Spalten einflussreicher amerikanischer Zeitungen. Und last but not least: Die Tatsache, dass die amerikanischen Wähler im November 2008 über die Möglichkeit verfügten, dem unpopulär gewordenen Kurs der Republikaner eine Abfuhr zu erteilen und mit Barack Obama einen Neuanfang zu wagen, zeigt, wie stark sich die USA auch damals von den Diktaturen unterschieden, die im populären Wortgebrauch als „Schurkenstaaten“ definiert werden.

 Leonid Luks