Von Dr. Ling Yue
„Im Sommer meines siebzehnten Lebensjahres sah ich zu Hause in China einen Dokumentarfilm über eine junge Lehrerin in einem entlegenen Bergdorf. Den genauen Inhalt des Films habe ich längst vergessen. Doch die Gefühle, die der Film bei mir geweckt hat, habe ich nicht vergessen. Tränen flossen – nicht aus Rührung, sondern aus einer schicksalshaften Berufung: „Ich habe dich gefunden.“ Dieses „Dich“ war wohl mein Lebenssinn, auch wenn ich das damals noch nicht in Worte fassen konnte.
Zunächst nahm mein Leben jedoch eine ganz andere Richtung. Nach dem chinesischen Abitur, dem Gaokao, wurde mir ein Studienplatz in Feinchemie zugewiesen. Es war nicht meine Wahl, sondern der Bedarf des Staates. Ich schloss mein Studium mit einem Bachelor of Engineering ab und wurde Beamtin. Doch der Wunsch, mit Menschen umzugehen, ließ mich nicht los. Also begann ich ein weiteres Bachelorstudium im Fach Psychologie mit dem Ziel, andere zu unterstützen und zu begleiten. Die Psychologie hat ihren Ursprung in Deutschland. Mit einer Mischung aus wissenschaftlichem Interesse und dem Wunsch nach Freiheit kam ich 2008 nach Berlin, um ein Masterprogramm in Public Health zu absolvieren. Danach forschte ich an der Charité, promovierte an der Freien Universität Berlin, zog später wegen der Familie nach Bayern. Ich arbeitete bei einem großen Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen in München als Assistent Managerin. Aber all das hat mich nicht wirklich glücklich gemacht.