Aktuelles aus der Germanistik

Mit einem (post-)modernen Blick auf das Bürgerliche Trauerspiel. Ein Besuch des Dramas „Maria“ im Nürnberger Staatstheater

Maria Staatstheater Nürnberg
© Konrad Fersterer

Im Seminar Das Bürgerliche Trauerspiel beschäftigten sich Studierende mit eben dieser Gattung, wobei das besondere Augenmerk auf Lessings Emilia Galotti (1772), Schillers Kabale und Liebe (1784) und Hebbels Maria Magdalena (1844) lag. Als gewissermaßen Ausläufer der Gattung wurde zuletzt noch das Drama der Ingolstädter Autorin Marieluise Fleißer Fegefeuer in Ingolstadt (1926) analysiert. Das von Frau Dr. Alexandra Tretakov geleitete Seminar widmete sich Aspekten wie Geschlechterrollen, Machtverhältnissen und damit zusammenhängenden Familienstrukturen, die sich etwa auch in (ungewollten) Schwangerschaften niederschlagen. Ein besonderes Ereignis des Seminars war der gemeinsame Besuch des Theaterstücks Maria (2019) von Simon Stephens, inszeniert von David Bösch, am 8. Juni 2024 im Nürnberger Staatstheater. Das Stück wurde ausgewählt, um eine zeitgenössische Inszenierung des Mariastoffes zu erleben und zu untersuchen, wie dieser Stoff neu interpretiert, aktualisiert und verändert wird.

 

Schauspielhaus Nürnberg
© Melissa Wagner Das Schauspielhaus des Staatstheaters Nürnberg.

Vor dem gemeinsamen Theaterbesuch erhielten die Studentinnen und Studenten eine Führung sowohl durch Opern- und Schauspielhaus, in dem am Abend das Stück aufgeführt wurde. Der Fokus der Opernhausführung lag auf der logistischen Strukturierung des Theaters, wie der Spielplankonzipierung, Vertragskonditionen der Belegschaft des Theaters oder den Arbeitsbedingungen der Probearbeiten. Im Rahmen des Rundgangs wurden anhand der Architektur des Gebäudes auch die räumlichen Veränderungen erläutert, die das Haus während der Zeit des Nationalsozialismus erfahren hatte. Für Propaganda- und Repräsentationszwecke wurde beispielsweise das Treppenhaus umgebaut, damit untere Gesellschaftsschichten nicht mehr den gleichen Treppenaufgang wie führende politische Persönlichkeiten nehmen konnten. Zudem erhielten die Teilnehmenden des Seminars Einblicke in die Kostüm- und Maskenräume, die der Öffentlichkeit normalerweise nicht zugänglich sind. In dem renovierten und 2010 wieder neu eröffneten Schauspielhaus wurden den Studierenden schließlich die technischen Neuerungen erläutert, die auch bei den Theaterinszenierungen wie bei dem Stück Maria verwendet werden.

Opernhaus Nürnberg
© Melissa Wagner Das Opernhaus des Staatstheaters Nürnberg.

Die gleichnamige Protagonistin des Stücks Maria, von allen lediglich „Ria“ genannt, gespielt von Katharina Kurschat, ist 18, schwanger und wird von den Menschen aus ihrem Umfeld stetig allein gelassen. Wie bei der Herbergssuche vor der Geburt von Jesus Christus, sucht Ria bis kurz vor der Entbindung, aber ohne Kindsvater, nach jemanden, der sie bei der Geburt unterstützt, jedoch vergeblich. Trotz dieser gesellschaftlichen Klischees und der prekären Lage, schafft es Ria nach der Geburt des Kindes einen Job bei einer Online-Plattform anzutreten, wo Personen, die aus verschiedensten gesellschaftlichen Positionen stammen, sie als Gesprächspartnerin engagieren können.  Im Zuge der Telefonate kommt zum Vorschein, dass sie alle dennoch eines eint – Einsamkeit. Aber auch anhand der Menschen in Rias Umfeld, wie beispielsweise des Hafenarbeiters, Pfarrers, Supermarktmitarbeiters oder des Arztes, zeigt Simon Stephans die Dysfunktionalität der Gesellschaft und wie ein Miteinander lediglich einem Schein unterliegt.

Opernhaus Nürnberg
© Melissa Wagner Erläuterungen der architektonischen Veränderungen durch den Nationalsozialismus.

Im Anschluss an den gemeinsamen Ausflug reflektierten die Teilnehmenden des Seminars den Theaterbesuch in der anschließenden Seminarsitzung. Sie diskutierten über die Klassifikation der Inszenierung als postdramatisch sowie über die dem Stück innewohnende Intention. Die Studierenden gelangten zu der Erkenntnis, dass die Inszenierung vor allem die Herausforderungen der Schwangerschaft einer jungen Mutter in den Vordergrund rückt, die trotz familiärer Konflikte und wenig Unterstützung durch ihr Umfeld, nicht aufgibt und stets weitermacht. Zudem reflektierten sie über mögliche Entsprechungen zur Gattung des Bürgerlichen Trauerspiels. Gemeinsamkeiten offenbaren sich in der moralischen und emotionalen Tiefe der Stücke, die sich intensiv mit ethischen Fragen und persönlichen Gewissenskonflikten auseinandersetzen. Darüber hinaus zeigen die Kritik an gesellschaftlichen Missständen und der Fokus auf familiäre Beziehungen Verbindungen zur Gattung des Bürgerlichen Trauerspiels auf.

Schließlich waren auch die Parallelen zu den im Seminar behandelten Dramen Gegenstand der Analyse im Plenum. Sowohl Klara in Hebbels Maria Magdalena als auch Olga in Fleißers Fegefeuer und Ria in Stephens’ Maria sehen sich als schwangere Frauen mit teilweise ähnlichen Herausforderungen und Tragödien konfrontiert. In einer restriktiven und oft heuchlerischen Gesellschaft, die ihnen kaum Unterstützung bietet, müssen sich diese Frauencharaktere behaupten. Unter dem Druck, den strengen gesellschaftlichen Normen und moralischen Ansprüchen ihrer Zeit entsprechen zu müssen, erlebt jede von ihnen Isolation und Verzweiflung. Die Diskussion zeigte, dass trotz fortschreitender Unterstützung und liberalisierter Werte schwangere Frauen auch heute weiterhin gesellschaftlichen Erwartungen und moralischen Urteilen ausgesetzt sind.

Marta Lescher und Paula Radnitz

Opernhaus Nürnberg
© Melissa Wagner Führung durch das Opernhaus.