News am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft

Spazieren, Flanieren – Parodieren?

© Fanny Gustaffson / Unsplash

Vor bald fünf Jahren starb der Büchner-Preisträger und „Chronist des alltäglichen Wahnsinns“ Wilhelm Genazino, der den Typus des „Flaneurs“ in der deutschen Gegenwartsliteratur wieder salonfähig gemacht hat. Hierzu wurde Friederike Reents unlängst in einem Interview befragt. Im Sommersemester bietet sie ein Seminar zu Genazino und zur Geschichte des Flanierens an.

Der Flaneur zeichnet sich – in der Tradition von Edgar Allan Poe, Charles Baudelaire bis Walter Benjamin – durch zielloses Umherstreifen, illustratives Sehen und „die Dialektik der Flanerie“ aus: sie besteht darin, von allen gesehen zu werden und gleichzeitig doch ungesehen zu beobachten. Um die Dinge zum Sprechen zu bringen, sind Zeit, Zufall und Beiläufigkeit notwendig– Merkmale, die auch bei Genazinos Helden oder vielmehr Antihelden zu finden sind. Nach den strengen Maßstäben von Louis Huarts Physiologie du Flaneur aus dem Jahr 1841 sind seine Figuren indes keine klassischen Flaneure, da demgemäß der Müßiggänger am Feierabend oder im Ruhestand kein Flaneur sei. Auch aus ganz anderen Gründen sind Genazinos Protagonisten keine Flaneure, sondern vielmehr Parodien auf diese: Ihr Gang ist keineswegs lustvoll, sondern mal ohnmächtig, mal stolpernd, mitunter nahezu bösartig ihre Beobachtungen, und fast immer sind sie wie auf der der Flucht vor sich selbst unterwegs. Anders als Benjamin es beschrieben hatte, lauschen sie den Dingen nicht ihre Aura ab, sondern sie stehen unter dem Zwang, die Dinge gleichzeitig zu beschreiben und zu durchdringen, sind ihnen daher ausgeliefert. Anstatt dies nacheinander zu tun, wie dies etwa Siegfried Kracauer als Schreibideal postuliert hat, erliegen sie der Reizüberflutung der Großstadt, während sie gleichzeitig versuchen, diese, wie schon von Georg Simmel beschrieben, intellektuell einzuordnen. Mal ausgeliefert dem, was sie sehen, mal bemüht, dies zu bemeistern, leben sie im Ergebnis in vollständiger „Niedergeschlagenheit“.

Im kommenden Sommersemester wird Friederike Reents ein Seminar zum Thema Flanieren, Spazieren – und Parodieren, und damit auch zum Werk Genazinos anbieten. Im Rahmen des Seminars wird die Hamburger Anglistin JProf. Dr. Sandra Dinter einen Vortrag halten. Sie arbeitet an der Schnittstelle von Gender und Mobility Studies über Figurationen, Kodierungen und Funktionen der ‚weiblichen‘ Fortbewegung zu Fuß in der britischen Literatur und Kultur des 19. Jahrhunderts. Beide bewegen sich in ihren Forschungsansätzen jenseits des dominanten Forschungsparadigmas der Flânerie.