Die antike Rhetorik hat uns eines der größten Regelwerke des Altertums hinterlassen. Zahllose Vorschriften regeln bis ins Detail, wie eine Rede erdacht, geordnet, ausformuliert, memoriert und vorgetragen werden soll. Am ausführlichsten können wir sie beim kaiserzeitlichen Rhetoriklehrer Quintilian in seinen zwölf Büchern der Institutio oratoria nachlesen. Das Verhältnis solcher Theoriefülle zur Redepraxis ist von der altphilologischen Forschung oft kritisch betrachtet worden. Und Quintilian selbst weiß sehr wohl, dass es gerade das Nicht-Einhalten der Regel sein kann, das zum rhetorischen Erfolg führt (inst. 2,13,1-8). An diesem Punkt setzt unser Projekt an: Es erforscht den Regelbruch in seinem Ablauf, seiner rhetorischen Umsetzung und seinen ethischen, ästhetischen und juristischen Implikationen.
Dabei werden verschiedene Arten Regeln in Kombination mit verschiedenen rhetorischen Texten in den Blick genommen: Neben den technischen Regeln der Rhetorik selbst spielen auch gesellschaftliche Erwartungshaltungen, ethische Normen, tradierte Verhaltensweisen und persönliche Empfehlungen in der Rhetorik eine wichtige Rolle. Zu den rhetorischen Texten, in denen sie erwähnt, beschrieben oder implizit verhandelt werden, gehören neben den Lehrbuchausführungen auch Gerichtsreden, juristische Fachliteratur, politische Reden, Lobreden und Deklamationen. Ihre zeitgenössische Fortsetzung findet die Frage nach der Rhetorik des Regelbruchs zudem in modernen Bundestagsreden, philosophischen Abhandlungen und journalistischen Texten.
In unserem Netzwerk wollen wir folgende zentrale Forschungsfragen an diese Texte herantragen: Was macht einen Regelbruch in der Rhetorik erfolgreich? Was unterscheidet den gelingenden, kreativen Regelbruch von einem misslingenden, Anstoß erregenden Regelbruch? Welche Effekte und welche Ästhetik zeichnen Regelbrüche aus? Welche moralischen Implikationen begleiten den Regelbruch? Was sagt der Regelbruch aus über den Akteur, ggf. über den Autor und das tatsächliche bzw. konstruierte Publikum? Inwiefern verändert die Erfahrung von Regelbrüchen die weitere Entwicklung der rhetorischen Theorie?
Das vorliegende Netzwerk strebt eine Klärung dieser offenen Fragen in interdisziplinärem Zugriff vermittels Workshops, Podcasts und einer Abschlusstagung an. Zur Schärfung der eigenen Begrifflichkeit, zur Einbeziehung des soziokulturellen Kontexts und zur Gewinnung von Impulsen durch den Vergleich mit modernen Regelbrüchen in der Rhetorik gehören dem Netzwerk auch Forscherinnen und Forscher anderer Fächer als der Klassischen Philologie an, insbesondere der Allgemeinen Rhetorik, der Journalistik, der Alten Geschichte, des Rechts und der Philosophie.
Expertise: Rhetorik und (Selbst-)Darstellung (v.a. Kaiserfiguren)
Projekt im Netzwerk: Regelbruch als Form der Aushandlung in spätantiker Kaiserpanegyrik
Lobreden für spätantike römische Kaiser sind seit langer Zeit Gegenstand ausführlicher Erforschung – die Idee, es handele lediglich um Texte, die die Adressaten „schmeicheln“ möchten, ist seit einiger Zeit überholt worden und mehrere Studien haben gezeigt, dass die Lobreden im Kontext weiterer Formen der Kommunikation zwischen Herrschern und Beherrschten zu lesen sind (etwa Münzen, Inschriften usw.). Besonders relevant ist in diesem Sinne die Tatsache, dass diese Lobreden eben nicht nur ihre Adressaten „loben“ – durch die Formulierung eines Idealmodells des guten Kaisers und die Behauptung, der Adressat würde diesem Modell entsprechen, werden dem Adressaten auch gleichzeitig die Wünsche und die Erwartungen des Sprechers und seiner sozialen und kulturellen Gruppen und es wird dadurch auch skizziert, was der Kaiser eben machen muss, um ihre Unterstützung nicht zu verlieren. Die Panegyrik folgt aber auch klaren rhetorischen Regeln, die nach Christian Ronning als Formen der Objektivierung der Beziehung Herrscher-Beherrschten und der Idealtugenden und Idealwerte der politischen Macht zu verstehen sind. Solche Objektivierung findet in der Performanz sowie in der Poetik statt, im Rahmen eines stetigen Vergleichs zwischen dem Text und den „Formeln“ – die Autoren selber rekurrieren auf Redewendungen, die auf die Existenz von festen Regeln und Erwartungen hinweisen (etwa dicendus est). Daher – so weiter Ronning – besteht der Wert solcher „auratischen Texte“ in ihrer „Null-Information“: die Rituale ihres Vortrags am Hof sind die Bedingung, unter der der Text dem Kontext der Austragung Bedeutung verleiht. Und dennoch ist auch eine solche Sicht letztendlich reduktiv, denn die Panegyrik, wie sie in den Rhetorik-Handbüchern vorgestellt ist, einen Idealtyp bildet und die meisten Reden zeigen kleinere oder größere Abweichungen von den Modellen, die mehr oder minder als Regelbrüche signalisiert werden. Eben da, wo der Text dann von dem Erwarteten und dem Kanonischen abweicht, ist ein Inhalt zu identifizieren, der keinesfalls mehr als „Null-Information“ gilt. Ziel dieses Teilprojekts ist eine systematische Untersuchung lateinischer und griechischer spätantiker Lobreden an die Kaiser aus dieser Perspektive zu liefern – jenseits der in der Forschung häufiger diskutierten Panegyrici Latini werden auch die erhaltenen Reden von Symmachus, Julian, Themistios, Libanios usw. analysiert. In einem ersten Schritt wird auch anhand Rhetorik-Handbücher (und hauptsächlich Menander Rhetor) das „Modell“ identifiziert, den „Idealtyp“ der Lobrede an den Kaiser, um in einer zweiteren Phase die Abweichungen in den unterschiedlichen Reden zu identifizieren und zu erklären, wie sich hier die Kommunikation an den Kaiser in einer besonderen Art und Weise verdichtet. Die Ausgangstheorie ist eben, dass diese Momente, in denen der Redner den Erwartungen den Zuhörer_innen nicht entspricht, auch Momente sind, in denen derer Aufmerksamkeit „aufgeweckt“ wird – für die Formulierung von Inhalten, die dem Sprecher besonders relevant und wichtig zu sein scheinen.
Expertise: Antike Deklamation, Antike Literaturtheorie
Projekt im Netzwerk: „Zwischen Rhetorik und Philosophie. Die rhetorische Argumentation im Rom der späten Republik und frühen Kaiserzeit“
In diesem Teilprojekt soll die Argumentation der Redner untersucht und dabei die Diskrepanz zwischen der Theorie und der Praxis beleuchtet werden. Insbesondere stellt sich dabei die Frage, wie verbindlich die Statuslehre ist, die der Kernbestand der Theorie von der Argumentation von Hermagoras bis zur Spätantike (und darüber hinaus) ist. Teilweise in Konkurrenz hierzu tritt die divisio-Lehre zum Vorschein, und zwar insbesondere in den Deklamationen. Nicht zuletzt auch gibt es die Lehre (von Cicero prominent gefordert), dass der Redner vom Einzelfall auf das allgemeine Problem abstrahieren soll, wobei diese allgemeine Argumentation als philosophisch betrachtet wird. Eine Nähe zur Philosophie könnte sich auch in der divisio-Lehre verbergen, da dieses Argumentationsmuster auf der konsequenten Anwendung von Dichotomien beruht, die von einer allgemeinen Fragestellung zu konkreten Antworten führen, und die dihäretisch vorgehende Argumentation ein Kennzeichen insbesondere der Platonischen Akademie ist. Daher wird die Argumentation der Redner unter dem Gesichtspunkt der Regel (Theorie) und der Regelabweichung (Praxis) sowie mit Blick auf die Grenzen und Grenzüberschreitungen zwischen Rhetorik und Philosophie beleuchtet werden. Es bietet sich an, hierfür – neben den Deklamationen – v.a. Ciceros späte Reden zu untersuchen, insbesondere die Philippiken.
Expertise: Rhetorische Regeln des Journalismus (Narrativität, Framing, Schreibprozesse)
Projekt im Netzwerk: „Zwischen Objektivität und Transparenz: Wie sichtbar darf die Erzählstimme in journalistischen Texten sein?“
Die Rolle des Redners, der Rednerin im Journalismus schien lange klar: Er oder sie hatte keine Rolle zu spielen. Das „ich“ in journalistischen Texten war verpönt und mit dem Verdacht unterlegt, da wolle sich jemand in den Vordergrund drängen, der doch nur Mittler sein sollte oder, schlimmer noch, seine Meinung zum Maßstab machen. Abgrenzen wollte man sich damit insbesondere in Deutschland auch von der Funktion die ein sogenannter Journalismus im Nationalsozialismus gespielt hatte, der unverhohlen subjektive Meinungen in den Mittelpunkt stellte. Nach 1945 orientierte man sich am angloamerikanischen Modell, als Aufgabe des Journalismus galt fortan die neutrale Vermittlung objektiver Tatsachen. Selbst für die subjektiven Genres, wie etwa die Reportage, fordern die Handbücher des Journalismus, dass die 1. Person Singular nur dann Verwendung finden sollte, wenn der Reporter oder die Reporterin eine aktive Rolle im Geschehen übernimmt, etwa in einem Selbstversuch.
Gebrochen wurde diese Regel allenfalls vom literarischen Journalismus, der die 1. Person Singular als Stilmittel und nicht als Selbstdarstellung begriff, wie etwa der New Journalism in den USA. Bis heute verwenden aber auch sehr angesehene Formate, wie die Seite 3 der Süddeutschen Zeitung, nur die dritte Person (der Reporter, die Reporterin) sofern die Autoren der Geschichte überhaupt im Text sichtbar werden.
Zugrunde liegt der Regel auch der heute naiv anmutende Glaube, Journalismus könne objektiv sein. Dies ist nicht nur aus konstruktivistischer Perspektive immer wieder in Frage gestellt worden, heute hat sich in vielen Redaktionen die Einsicht durchgesetzt, dass durch die Anordnung eines Beitrages, durch die Auswahl der Fakten und die Sprache stets ein subjektiver Faktor einfließt. Inzwischen gibt es in der Forschung Positionen, die gerade aus Gründen der Objektivität und Transparenz fordern, die Erzählstimme in journalistischen Texten sichtbar zu machen. Und in den jungen Formaten, etwa des öffentlich-rechtlichen Kanals „Funk“, sind Ich-Erzählungen in Berichten und Reportagen weit verbreitet – die direkteren digitalen Erzählweisen haben hier eine unausgesprochene Revolution eingeläutet. Die 1. Person Singular als Erzählstimme verspricht mehr Nähe zum Publikum und soll authentischer wirken.
Das Projekt will ausleuchten, wie mehrdimensional und zeitabhängig die Folgen für Texte durch diese Regel und ihren Bruch sein können: Untersucht werden sollen journalistische Texte, die tatsächlich die Befürchtungen an den Bruch mit dieser Regel erfüllen, ebenso wie Beiträge, die durch den Regelbruch eine neue Dimension aufzeigen, die die Verfechter der Regel nicht bedacht haben. Wie gut sind die Regel oder der Regelbruch geeignet, die demokratische Funktion des Journalismus zu stützen: Führt der Regelbruch eher zu einer gleichberechtigten Kommunikation auf Augenhöhe? Schafft die Abwesenheit der Erzählstimme eine falsche Objektivität, fördert die dadurch entstehende Distanz eine demokratisch unerwünschte Autorität im Sinne eines Verlautbarungsjournalismus? Ist vielleicht umgekehrt die Nutzung der 1. Person Singular nur eine durch die Digitalisierung gefördert Mode, die Nähe und Authentizität vortäuscht und der Redesituation unangemessen ist? Sind solche Dimensionen in ihrer Deutung durch das Publikum vielleicht auch zeitgebunden? Mit verschiedenen Textsorten und Textvarianten und in kleinen Experimenten soll diesen Fragen nachgegangen werden.
Expertise: Antike Schul- und Schaurhetorik, Ästhetik der Hässlichen
Projekt im Netzwerk: „Die Declamationes maiores als experimentelle Bühne für Bruch und Neuverhandlung soziokultureller und ästhetischer Normen“
Bei den Declamationes maiores handelt es sich um ein Corpus von 19 fiktiven Gerichtsreden, die fälschlicherweise Quintilian zugeschrieben wurden, aber wohl verschiedenen Autoren des 2. bis 4. Jhs. n. Chr. entstammen. Seitdem sie in der philologischen Forschung nicht mehr als Hinterlassenschaften realitätsferner Schulrhetorik diffamiert, sondern als wichtige Zeugnisse öffentlicher Bildungs- und Unterhaltungskultur erkannt worden sind, haben sich neue Forschungsfelder zur Bestimmung ihrer literarischen Eigenart und ihrer gesellschaftlichen Funktion aufgetan – immerhin waren die Deklamationen über Jahrhunderte hinweg ein höchst populäres Medium der gebildeten Unterhaltung in elitären Zirkeln ebenso wie vor großen Publika. Doch auch die derzeit favorisierte Deutung, wonach die Praxis der Deklamation inner-halb und außerhalb der Schulen ein römisches Wertesystem und eine Situationsethik ver-mitteln sollte, erscheint nicht auf alle überlieferten Deklamationstexte gut anwendbar.
Hier setzt das Projekt an: Es geht von der Beobachtung aus, dass einige Declamationes maio-res eine weitaus experimentellere Bühne boten und nicht davor zurückscheuten, gesellschaft-liche Normen und Erwartungen durch eine Rhetorik der Umkehrung, eine Ästhetik des Schrecklichen bzw. Ekligen und eine provokante Figurenkonstellation grundsätzlich in Frage zu stellen. Indem scheinbar inferiore, Regeln brechende Akteure (wie z.B. ein kannibalischer Bürger oder eine mit Totengeistern verkehrende Ehefrau) als dezidiert sympathisch und mora-lisch überlegen gezeichnet werden, fordern sie dazu heraus, die Gültigkeit der zugrundeliegen-den Normen zu hinterfragen – und sei es nur für einen karnevalesken Moment.
Das Projekt untersucht die Wirkungsabsicht, die ästhetische Gestaltung und die moralischen Implikationen dieser gezielten Regelbrüche und nimmt dabei auch die Rolle des tatsächlichen oder intendierten Publikums in den Blick.
Expertise: Theorie des Spiels, Methodologie der Philosophie
Projekt im Netzwerk: „Der Regelbruch als Methodik der Philosophie. Vom Verstoß der Dekonstruktion gegen die Spielregeln des Denkens zu einem Aufbruch in die Postmoderne“
Im homo ludens beschreibt Huizinga (vgl. Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. In engster Zusammenarbeit mit dem Verfasser aus dem Niederländischen übertragen von H. Nachod. Reinbek bei Hamburg 202006.) wie das Spiel die Entwicklung der menschlichen Kultur antreibt und beeinflusst. Bestimmendes Merkmal des Spiels ist seine Limitierung durch Regeln. Was aber passiert, wenn diese Regeln absichtlich verletzt oder unterminiert werden? Die Regelbrecher, so Huizinga, zerstören das Spiel, schaffen aber gleichzeitig einen neuen Rahmen für ein neues Spiel mit anderen Regeln, Bedingungen und Ergebnissen.
Nimmt man das Spiel als Metapher im Sinnes des Sprachspiels bei Wittgenstein, gilt es als Muster/Setting für die regelorientierten Wissenschaften wie Philosophie, Wirtschafts-wissenschaften, Linguistik, Musikwissenschaften oder Rechtswissenschaften, die sich - zum Beispiel in der Spieltheorie - auch mit der eigenen Methodologie und dem Regelbruch beschäftigen. Mit anderen Worten: Das Philosophieren funktioniert wie ein Spiel, so dass viele Erkenntnisse der Theorien des Spiels auch in Bezug auf die Philosophie wirksam werden.
Unter der besonderen Betrachtung des (Spiel-)Regelbruchs stellt sich nun die Frage, ob und wie sich neue Spiele/Muster der Philosophie herausbilden, wenn Regeln gezielt gestört, überwunden oder zerstört werden. Eine besonders eindrückliche Epoche der Philosophiegeschichte bietet hierfür die Philosophie der Postmoderne, darin insbesondere die Idee der Dekonstruktion bei Lyotard und Derrida: Im Ergebnis der Postmoderne wird die Welt der Wissenschaft (und die der Kunst und der Literatur) in ihrer bisherigen Struktur negiert und stattdessen das freie Flottieren (ein Begriff der Postmoderne) von Sinn jenseits bisheriger Denkmuster beschrieben.
Dabei ist, so die Arbeitsthese, die vorgebliche Analyse der Welt (vgl. z.B. Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Herausgegeben von Peter Engelmann. Wien 21993.) in der Postmoderne nicht entscheidend für das Ergebnis – vielmehr ist die Art und Weise der Analyse der Welt durch eine Methodik des Regelbruchs gekennzeichnet, die zu jenem Ergebnis führt. (Vorlaut formuliert, wäre die Postmoderne demnach gar keine zeitliche Epoche, sondern das Ergebnis eines gezielten Regelbruchs der Philosophie der Dekonstruktion.)
Expertise: Antike Ästhetik; Theoriebildung
Projekt im Netzwerk: „Regelbruch und rhetorische Pragmatik im ‘rechten Augenblick’ (καιρός)“
Die Möglichkeit, Regeln zu brechen, setzt voraus, dass es allgemein bekannte, benennbare und akzeptierte Regeln, ja wohl auch ein Regel’werk’, jedenfalls ein Regel’system’ gibt. Im Falle der Rhetorik betrifft diese Voraussetzung zwei Dimensionen, zum einen den technischen, zum anderen den kommunikativen Aspekt. Rhetorik ist in antiker Perspektive eine τέχνη (ars), als solche lehr- und lernbar, und, betrachtet man ihre Ausgestaltung, in der Tat eher prä- als deskriptiv. Es ist also möglich, jene Regeln zu brechen, und die rhetorische Disziplin fasst Regelbrüche wesensgemäß als ‘Fehler’ (vitia) auf, eben als Verfehlen einer Norm. Da jene Regeln jedoch selbst kein Maximum definieren können, sondern gewissermaßen die Existenz einer ‘Normalität der rhetorischen Praxis’ im Sinne einer Erwartungshaltung seitens der Rezipienten suggerieren, lässt sich in ihrer pragmatischen Umsetzung auch der jedenfalls partikulare Regelbruch als absichts- und daher wirkungs- und bedeutungsvoll verstehen. Mit einer solchen Strategie kann der rhetorische Praktiker im Sinne des von ihm verfolgten Redeziels (oder, literarisch, einer maximierten ästhetischen Wirkung) erfolgreich sein oder erst recht scheitern; so argumentiert beispielsweise Ps.-Longin mit Blick auf den genialen Praktiker in De Sublimitate.
Von der ars nicht erfasst, aber von allen Rhetorikern, angefangen wohl schon bei Pythagoras, spätestens aber seit Gorgias, als höchstrelevant und über den Erfolg der Rede entscheidend angesehen ist das Ergreifen des ‘rechten Augenblicks’, des καιρός. Damit ist im Grundsatz die Tatsache bezeichnet, dass der Redner die Erfordernisse der aktuellen Redesituation zu berücksichtigen hat, und zwar weniger grundsätzlich – das wird bereits durch die τέχνη ‘geregelt’ – als vielmehr spontan, weil sich viele der relevanten Faktoren unvorhersehbar ergeben. Ist er hier zu einer – vom Regelwerk natürlich nicht erfassbaren, weil eben nicht normierten – Reaktion nicht in der Lage, also möglicherweise zu einer massiven Neuorientierung seiner Rede, vielleicht aber auch nur Setzung einer ungeplanten Pointe, kann er völlig untergehen; so geschah es etwa Cicero beim Vortrag seiner Rede Pro Milone.
Die Regeln, die hier zu brechen sind, gehören eher einem Netz sozialer Normen an: Der Redner muss hier abrupt gegen die Erwartungen sprechen, die sich seitens des Publikums an seine Person (Geschlecht, Identität, soziale Stellung etc.), den Gegenstand der Rede sowie an die Berücksichtigung eben jenes vielköpfigen und in seinen Ansichten und seinem Verhalten heterogenen und komplexen Publikums richten. Das zu können, diesen Regelbruch intuitiv ‘richtig zu machen’ ist Teil rhetorischer Meisterschaft. Allerdings ist es für uns schwierig, diese ‘Stellen’ in den erhaltenen Reden nachzuvollziehen, denn sie gehören nicht in den schriftlichen Text, sondern in den Augenblicksvollzug, also in die Performance. Auf der Spurensuche nach dem Gelingen und Scheitern, dem Treffen und Verfehlen des καιρός sind daher statt dessen rhetorisch-literarische Metatexte zu konsultieren: Poetiken, Autorviten, Hypotheseis, Anekdoten- und Apophthegmensammlungen, Lexikoneinträge, Scholien etc.
Expertise: Cicero und Cicero-Rezeption
Projekt im Netzwerk: „Regelbruch in Ciceros Brutus und Ciceros Regelbrüche: Entschuldigt der ‚passende Moment‘ (aptum) alles?“
Ciceros rhetorische Werke sind neben dem des Quintilian für uns die wichtigste Quelle für unsere Kenntnis der rhetorischen Theorie in Rom. Jedoch hat Cicero sie nie im luftleeren Raum als reine Regelbücher verfasst; er wollte mit ihnen stets auch der oratorischen Praxis seiner Zeit Rechnung tragen und die Rolle von Beredsamkeit für die politische Kultur austarieren. Wie geht er mit Regelbrüchen um? Diese Frage soll zweiteilig beantwortet werden. Einerseits nehme ich seinen Brutus unter die Lupe – die von ihm verfasste Geschichte der römischen Beredsamkeit mit Kurzporträts vieler früherer Redner. Es soll herausgearbeitet werden, wie viele von ihnen gegen die von Cicero selbst in seinen früheren theoretischen Schriften (De inventione und De oratore) aufgestellten Regeln verstoßen und wie Cicero auf diese Regelverstöße reagiert – v.a., wenn diese Reaktion zustimmend ausfällt, da das individuelle Talent der Redner im Einzelfall eine rhetorische Untugend zur Tugend werden lassen können. Meine Hypothese ist, dass Cicero Abweichung von der Regel oft mit der vierten Stiltugend, dem aptum („dem Angemessenen“), verteidigen kann und dass er damit eine Flexibilität zulässt, die sich aus seiner praktischen Erfahrung im politischen und juristischen Kampf des 1. Jahrhunderts v.Chr. erklärt, in dem zu starres Beharren auf Regeln kontraproduktiv sein konnte. In einen (möglichen, aber nicht zwingend notwendigen) zweiten Schritt möchte das Projekt zusätzlich fragen, ob antike Kommentatoren von Ciceros Reden (die wir als das Corpus der Scholia Ciceroniana kennen) in Ciceros eigenen Reden eine vergleichbare Flexibilität festgestellt haben, ob also Ciceros theoretische Besprechung des Regelbruchs anderer Einfluss auf die Beurteilung seiner eigenen Reden gehabt hat.
Expertise: Römisches Recht, Neuere Privatrechtsgeschichte, Argumentationstechnik bei Cicero
Projekt im Netzwerk: „Aequissimum erit ignosci ... – Die Entschuldigung von Regelverstößen bei den römischen Juristen“
Die Dialektik von Regel (im Sinne von Rechtsnorm) und Regelbruch ist ein Grundmuster des Sprechens über Recht. In den Schriften der klassischen römischen Juristen, wie sie insbesondere in den justinianischen Digesten überliefert sind, geht es regelmäßig um den Verstoß gegen Rechtsnormen und die Folgen (Sanktionen) eines solchen Verstoßes. Dabei diskutieren die Juristen nicht primär über die Bestrafung von Verbrechen, denn das Strafrecht spielt in den überlieferten Juristentexten nur eine relativ untergeordnete Rolle. Vielmehr geht es meist um vermögensrechtliche Folgen des Bruchs von Rechtsregeln auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts. Auffällig ist, dass die Juristen nicht selten einen Regelbruch bejahen, diesen aber ausnahmsweise für entschuldbar halten und deshalb keine Sanktion verhängen wollen.
Charakteristisch sind Wendungen wie (non) ignoscendum est oder ähnliche, mit denen die Juristen zum Ausdruck bringen, ob ein (an sich gegebener Regelverstoß) im Einzelfall ausnahmsweise ohne Konsequenzen bleibt oder ober sanktioniert werden muss. So soll der hochklassische Jurist Julian das Verhalten eines Vaters für entschuldbar gehalten haben, der seine Tochter schon vor Erreichen der Geschlechtsreife verhalten wollte. Da seine Verhalten mit Zuneigung (affectus) zu erklären sei, schulde der Vater dem Bräutigam, wegen der rechtlichen Unmöglichkeit der Eheschließung keinen Geldersatz (Dig. 27, 6, 11, 3. In einem anderen Text geht es darum, ob ein Ehemann seiner geschiedenen Frau eine Geldentschädigung wegen Beleidigung (iniuria) zahlen muss, wenn er zu Unrecht behauptet hat, sie sei schwanger und es müsse ein Pfleger zum Schutz des Ungeborenen bestellt werden. Nach Ulpian kommt es auf die Motivation des Mannes an: Hat er gehandelt, um seine frühere Frau zu kränken, so schuldet er Genugtuung. War er von einem übersteigerten Kinderwunsch getrieben, so ist sein Verhalten entschuldbar (aequissimum erit ignosci marito, Dig. 25, 4, 1, 8).
Die Beispiele legen nahe, dass die Entschuldigung von Regelverstößen in intimen, familiären Beziehungen in Betracht kam. Die Analyse der Situationen, in denen eine Entschuldigung für möglich gehalten wird, verspricht Aufschlüsse über zugrunde liegende Wertvorstellungen, Geschlechterrollen und familiäre Strukturen.
Im Rahmen des Forschungsvorhabens soll die Entschuldigung von Regelverstößen in den klassischen Rechtstexten systematisch untersucht werden. Dabei müssen Philologie und Rechs(geschichts)wissenschaft Hand in Hand arbeiten. Zunächst muss das Wortfeld „Entschuldigung“ erschlossen werden: Welche Ausdrücke (außer ignosci) kommen für das Absehen von der Sanktionierung eines Regelverstoßes in Betracht? Wie lässt sich die Entschuldigung des Regelverstoßes von der Rechtfertigung eines nur scheinbar regelwidrigen Verhaltens sprachlich und juristisch abgrenzen? Sodann ist zu untersuchen, welche Umstände als Gründe für ein ignosci in Betracht kommen und wie die Argumentation für oder gegen eine Entschuldigung des Regelbruchs jeweils sprachlich ausgestaltetet ist. Welche Rolle spielen „rationale“ Argumente einerseits und emotionale Appelle (etwa an das Verständnis für bestimmte seelische Ausnahmezustände) andererseits bei der Begründung von Entschuldigungen? Was wird nicht entschuldigt?
Expertise: Rhetorik und Performanz
Projekt im Netzwerk: „Zwischen Karikatur und Erfolgsmodell: der Bruch mit Regeln der actio in Theorie und Praxis“
In der Antike gibt es detaillierte schriftliche Anweisungen zum Vortrag des Redners ab der Zeit der späten römischen Republik. Am ausführlichsten sind sie uns in der Rhetorica ad Herennium und in Quintilians Institutio oratoria überliefert. Hier wird genau vorgegeben, wie Stimme, Mimik und Gestik des Redners richtig eingesetzt werden. Abweichungen von den Regeln werden einerseits klar als Fehler markiert und der Lächerlichkeit preisgegeben. Andererseits kann der Bruch mit Regeln der actio auch einen besonderen Effekt erzielen, der den Vortrag gerade erfolgreich macht.
Das Projekt geht der Frage nach, warum und nach welchen Kriterien Regelbrüche in der actio entweder als Fehler oder als Erfolg bewertet werden: Welche rhetorisch-technischen, sozialen und individuellen Parameter bestimmen, ob die Abweichung von der Norm kritisiert, akzeptiert oder gefeiert wird? Dazu wird erstens die Darstellung von Regelbrüchen in den actio-Anweisungen analysiert: Welche Rolle spielen Normabweichungen für die Theorie des Vortrags? Wie und warum werden sie von den Autoren (v.a. Auctor ad Herennium, Cicero, Quintilian) präsentiert? Zweitens werden actio-Regelbrüche konkreter historischer Redner untersucht, wie sie uns in den Rhetorik-Handbüchern, aber auch etwa über Redner-Beschreibungen in Ciceros Brutus zugänglich sind (insbesondere Antonius, Hortensius und Cicero selbst): Wann und wie bricht ein Redner Regeln über den Vortrag zu seinem Nachteil, unter welchen Umständen zu ihrem Vorteil? Stimmen die Bewertungen des Regelbruchs in der Praxis mit denen in der Theorie überein?
Das Projekt knüpft damit an aktuelle Forschungsfragen zum Verhältnis von rhetorischer Theorie und Praxis an und leistet ein Beitrag zum besseren Verständnis der Aushandlung von rhetorischen und sozialen Normen in der späten römischen Republik und frühen Kaiserzeit.
Expertise: Rhetorischer Unterricht, moderne Theorien der sozialen Interaktion
Projekt im Netzwerk: „Parrhesia: Der inszenierte Regelbruch und die Ordnung des politischen Diskurses“
Parrhesia, die freimütige, kritische Rede, die negative Sanktionen in Kauf nimmt, ist eines der zentralen Konzepte der griechischen Literatur und Kultur von der Klassischen Epoche bis zur Spätantike. Seit ihrem ersten greifbaren Auftreten in der Tragödie des fünften Jahrhunderts v. Chr. ist der parrhesia als kommunikativer Praxis die Ambivalenz zwischen der Ausübung von Freiheit und der Transgression von sozialen und kommunikativen Normen eingeschrieben. Einerseits wird sie positiv als Akt der Freiheit des Individuums bewertet; andererseits werden die ihr eigene Schamlosigkeit und die Verletzung von etablierten Konventionen mißbilligt. Die Forschung hat sich bisher darauf konzentriert, welche Grenzen der Ausübung der parrhesia in verschiedenen Zeiten und Kontexten gesetzt waren.
Davon setzt sich das Vorhaben ab, indem es den kommunikativen Akt der Freimütigkeit mit seiner Performanz in den Blick nimmt. Die potentiell Regeln und Normen verletzende Natur der parrhesia zeigt sich insbesondere in der politischen Rhetorik der attischen Demokratie. Charakteristisch ist, daß der Regelbruch der parrhesia, das Publikum mit Tatsachen, die nicht zur Sprache kommen sollen, zu konfrontieren und damit das Wohlwollen der Hörer zu destruieren, in den politischen Reden offen ausgestellt, ja inszeniert wird. Es handelt sich um einen kalkulierten Regelbruch, der als solcher markiert wird. Bereits die antike rhetorische Theorie konstatiert, daß dieser Verstoß auch nur vorgetäuscht sein kann und tatsächlich ein Mittel ist, die Zustimmung des Publikums zu gewinnen (Rhet. Her. 4.49f.; Quint. inst. 9.2.27f.).
Dieses Projekt wird die ‚Szenen‘ des Regelbruchs der parrhesia in politischen Reden untersuchen und dabei vor allem die intendierten Effekte des Verstoßes herausarbeiten. Zum einen soll untersucht werden, wie der thematisierte Regelbruch die Rollen des Sprechers und des Publikums formt; zum anderen wird gezeigt, daß er als Vehikel dient, um den politischen Diskurs neu zu ordnen. Im Zentrum steht also die produktive Kraft des Regelbruchs.
Expertise: Rhetorik der frühen Neuzeit, Ästhetik, Propagandaforschung
Projekt im Netzwerk: „,Ich rufe Sie zur Ordnung!‘ Ordnungsrufe im Deutschen Bundestag, 1950-2020“
In Parlamentsdebatten im Deutschen Bundestag werden politische Positionen im Modus der parteilichen Rede pro und contra diskutiert. Dabei finden allerdings keine echten Überzeugungsprozesse statt, vielmehr wird die Zustimmungsfähigkeit von Argumenten für oder gegen eine politische Position (manifest etwa in Gestalt von Gesetzentwürfen) aus Sicht der einzelnen Fraktionen und ihrer Akteure für die Öffentlichkeit dargestellt (und später im Parlamentsprotokoll dauerhaft festgehalten). Die parlamentarische Kommunikation ist dabei durch eine Vielzahl von Regelungen restringiert, die in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages niedergelegt sind. Sie regelt u.a. den Ablauf der Sitzungen, die Abfolge der einzelnen Rednerinnen und Redner aus Regierung und Opposition und die Redezeit.
In § 36 der Geschäftsordnung ist niedergelegt, wie der Präsident oder die Präsidentin mit Verstößen gegen die Regeln des Parlamentsbetriebs umgehen kann: „Er kann Mitglieder des Bundestages, wenn sie die Ordnung oder die Würde des Bundestages verletzen, mit Nennung des Namens zur Ordnung rufen. Der Ordnungsruf und der Anlass hierzu dürfen von den nachfolgenden Rednern nicht behandelt werden.“ (§ 36 Abs. 1) In den Plenardebatten des Deutschen Bundestages von 1950 bis 2020 (19. Deutscher Bundestag) musste der Präsident oder die Präsidentin ausweislich der elektronisch zugänglichen Protokolle 154 Mal einen Parlamentarier oder eine Parlamentarierin mit der konventionalisierten Aufforderung „Ich rufe Sie zur Ordnung!“ an die kommunikativen Regeln erinnern. Der Ordnungsruf markiert damit eine kommunikative Handlung als Abweichung und bekräftigt auf diese Weise zugleich die kommunikative Ordnung im Parlament.
Diese 154 Sprechhandlungen und ihr jeweiliger Kontext dienen als Analysekorpus, an das folgende Forschungsfragen (FF) gestellt wird:
FF 1: Was ist der Grund für den Ordnungsruf? Was wird vom Präsidenten oder der Präsidentin als Verstoß gegen Ordnung und Würde angesehen? Wird der Ordnungsruf argumentativ begründet und welche Begründungen werden vorgebracht?
FF 2: Wie entwickelt sich im diachronen Längsschnitt die Frequenz der Ordnungsrufe? D.h. gibt es Zeiten und/oder spezifische Debatten, die besonders viele Ordnungsrufe hervorbringen?
FF 3: Welche Parteien und welche Abgeordneten und Abgeordnete ziehen besonders viele Ordnungsrufe auf sich?
FF 4: Gibt es in der Geschichte des Deutschen Bundestages einen Fall (oder gar mehrere Fälle), dass einem Parlamentarier oder eine Parlamentarierin das Wort entzogen wurde (wie in der Geschäftsordnung § 36 Abs. 2 geregelt). Wie wird diese drastische Maßnahme im Einzelfall begründet?
FF 5: Schließlich: Ist ein valider Zusammenhang erkennbar zwischen dem Ordnungsruf als Bruch mit den parlamentarischen Regeln und der dadurch erzeugten Aufmerksamkeit? Hierzu wird die Rezeption in ausgewählten großen Tageszeitungen untersucht.
Expertise: Rhetorische Tradition und Kanonbildung, Antike Philosophie
Projekt im Netzwerk: „Die Anti-Regel-Einstellung in der (früh)griechischen Rhetorik“
Seit den frühen Anfängen der rhetorischen Tradition merkt man eine klare anti-Regeln Bewegung. Platon's Phaidros und Isokrates' Gegen die Sophisten, Helena und Antidosis finden es alle lächerlich, dass man Rhetorik (oder die Kunst des guten Sprechens) irgendwie aus fixierten Regeln lernen könnte. Ihrer Meinung nach ist die Lebendige Sprache wie ein Organismus, der sich ständig weiterentwickelt und niemals vollständig erklärt oder verstanden werden kann, indem man sich auf abstrakte universelle Vorschriften beruft. Vielleicht auch deswegen ist die (früh)griechische Seite der rhetorischen Tradition mehr auf die Nachahmung der Vorbilder/Autoren (imitatio) und nicht so sehr auf die Befolgung der Regeln bedacht? Während sich die Tradition weiterentwickelt, bemerken wir, dass der Wunsch zunimmt, immer strengere Regeln für gute Redepraktiken festzulegen und zu befolgen, aber die Spannung zwischen Theorie und Praxis des Redens bleibt irgendwie im Kern der Rhetorik als Disziplin bestehen.
Dieses Projekt untersucht diese beiden gegensätzlichen Triebkräfte in rhetorischer Theorie und Praxis mit Verweisen auf vier Autoren: 1. Platon und Isokrates, die sich gegen strenge Regeln aussprechen (die so-genannte anti-Regeln Gruppe), und 2. Aristoteles und Anaximenes, die die Möglichkeit betonen, Regeln aufzustellen, die dabei helfen, sich erfolgreich in der rhetorischen Landschaft zurechtzufinden (die so-genannte pro-Regeln Gruppe). Als zentrale Fragestellung des Projekts werden wir daran arbeiten, die Rolle von Regeln (und Regelbruch) in der griechischen Rhetorik besser zu verstehen.
Expertise: Rhetorik und Anschaulichkeit, Ästhetik des Grausigen und Hässlichen
Projekt im Netzwerk: „ut non sit imitandum. Negativbeispiele in der Rhetorica ad Herennium“
Rhetorikhandbücher oder Texte, die rhetorische Vorschriften enthalten, geben nicht nur Beispiele für die gelungene Ausführung oder Umsetzung einer Regel, sondern häufig auch Beispiele, in denen gegen eine Regel verstoßen wird, die also genau das illustrieren, was in einer Rede zu vermeiden ist. Dabei handelt es sich sehr häufig um Beispiele, die besonders eingängig, oft witzig und sehr erfolgreich und wirkungsvoll sind.
Aus diesen Negativbeispielen ergibt sich eine Art Spannungsfeld: Auf der einen Seite wird ein Regelbruch illustriert, dessen Vermeidung offensichtlich dringend angeraten wird – und je eindrucksvoller die Illustration ausfällt, desto eindringlicher kann auch die Warnung wirken. Auf der anderen Seite wird genau damit aber auch die potentielle Wirkmacht eines bestimmten Regelbruchs ausgestellt, die dem warnenden Impetus massiv zuwiderlaufen kann – immerhin ist die größtmögliche Wirkung zu erzielen, um zu überzeugen, das Ziel einer jeden Rede.
Der Beitrag nimmt dieses Spannungsfeld in Negativbeispielen anhand der Rhetorica ad Herennium genauer in den Blick. Es soll untersucht werden, wo überhaupt Negativbeispiele gegeben werden und wie sie funktionieren, gegen welche Normen und Regeln (neben der, die sie illustrieren) sie verstoßen und was sie eigentlich erfolgreich und wirkungsvoll macht. Daraus lassen sich wichtige Erkenntnisse darüber gewinnen, wie produktions- und rezeptionsästhetische Aspekte (präskriptive Regeln auf der einen und – intendierte oder nicht intendierte – Wirkungen auf der anderen Seite) ineinandergreifen und ob bzw. wie dieses Zusammenspiel innerhalb des Regelwerkes reflektiert wird. Die Ergebnisse können als Grundlage für die Untersuchung von Negativbeispielen in anderen rhetorischen Regelwerken und auch in konkreten Reden dienen.
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