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In diesen Tagen um den 6. Dezember sind sie wieder unterwegs, die Darsteller des heiligen Nikolaus. Entweder korrekt als Bischof gekleidet, mit Stab und Mitra auf dem Kopf, aber auch im "Weihnachtsmann-Outfit" der Coca-Cola-Werbung: roter Mantel und rote Zipfelmütze.
Letztere haben mit dem Heiligen, dessen Gedenktag vorgestern auf dem Kalenderblatt stand, nichts zu tun. Hinter der Figur des legendären Nikolaus stehen zwei historische Personen aus der heutigen Osttürkei, ein Bischof Nikolaus, der im 4. Jahrhundert in Myra lebte und ein gleichnamiger Abt, der Mitte des 6. Jahrhunderts Bischof von Pinora war. Aus ihren Lebensbeschreibungen entwickelte sich dann die in Legenden fassbare, fiktive Figur des wundertätigen Bischofs Nikolaus.
Viel wir von ihm berichtet: Er rettet Seeleute aus Seenot, verhindert die Hinrichtung Unschuldiger, befreit drei Soldaten aus ungerechter Gefangenschaft, lässt bei einer Hungersnot Kornschiffe entladen und als sie weiterfahren, fehlt nichts an der Ladung. Und schließlich bewahrt er drei Mädchen vor der Sklaverei, indem er ihnen nachts Goldkugeln durchs Fenster wirft. Diese Legende hat wohl dazu geführt, dass Nikolaus bis heute seine Gaben über Nacht und unerkannt bringt und sich so als Freund der Kinder erweist.
Die zahlreichen Wundererzählungen über den heiligen Bischof hat im 13. Jahrhundert der Dominikaner Jacobus de Voragine im Abendland populär gemacht. Seine „Legenda aurea“, seine „Goldene Legende“, war das nach der Bibel meistgelesene Buch des Mittelalters. In dieser Sammlung von Heiligenlegenden berichtet der fromme Ordensmann auch, dass Nikolaus drei ermordete Schüler wieder zum Leben erweckte. Damit stieg Nikolaus zum Patron der Schüler auf. Den Nikolaustag am 6. Dezember feierte man in den Kloster-, Dom- und Pfarrschulen denn auch in einer ganz besonderen Weise.
Schon am Vorabend wurde einer der Schüler zum Bischof gewählt und entsprechend eingekleidet. Für einen oder mehrere Tage hatten nun die Kinder das Sagen – ein "Spiel der umgekehrten Ordnung" gemäß dem Lukasevangelium: "Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen" (Lk 1,52).
Der Schülerbischof leitete mit Chormantel, Stab und Mitra auf dem Kopf nicht nur manche Gebetsgottesdienste, er zitierte auch die Erwachsenen herbei. Sie mussten sich ihre Fehler und Versäumnisse vorhalten lassen und wurden dafür von einem Knecht bestraft; wer sich gut geführt hatte, bekam seine Belohnung. Für diese Tage rund um das Nikolausfest galt ein neuer Maßstab, jetzt bestimmten die Kinder über die Erwachsenen, die Kleinen über die Großen.
Im Zuge der Reformation und der Aufklärung wandelte sich das Kinderbischofsspiel zu einem Darstellungsspiel. Dabei kehrten sich die Verhältnisse um. Nun kam der heilige Bischof Nikolaus in die Familien und examinierte die Kinder. Die Folgsamen belohnte er mit kleinen Geschenken, die Nachlässigen ermahnte er. Hinter diesem Einkehrbrauch des Nikolaus stand der Gedanke der positiven Verstärkung. Das Lob und die Geschenke sollten die Kinder ermutigen und anspornen; milde Strafe sie vom verkehrten Weg abbringen. Dass daraus dann ein Spektakel wurde, das den Kindern oft Angst machte, die Erwachsenen aber insgeheim belustigte, lag sicher nicht im Sinne des Erfinders.
Der Nikolausbesuch hat seine Wurzeln in der Wertschätzung der Kinder und im Wissen darum, dass ihre Meinungen, Ansichten und Forderungen nicht unter den Tisch fallen dürfen. Schon der heilige Benedikt mahnte in seiner Klosterregel den Abt, die Meinung der Jungen zu hören und zu beachten. Heute gibt es Kinder- und Jugendparlamente, Schülersprecherinnen und -sprecher stehen in den Schulen für die Anliegen und Rechte ihrer Mitschülerinnen und -schüler ein. Sogar den Brauch der Kinderbischöfe gibt es seit einiger Zeit wieder. In Hamburg erscheinen seit 1994 jeweils drei Jungen und Mädchen in vollem Bischofsornat und reklamieren die Wünsche und Interessen der Kinder bei den Politikern und Kirchenleuten der Hansestadt; an manchen anderen Orten hat man den mittelalterlichen Brauch inzwischen wieder belebt.
Vor Jahren sang Herbert Grönemeyer: "Kinder an die Macht!"; der heilige Nikolaus und sein Brauchtum halten seit Jahrhunderten lebendig, dass Kinder ihre eigenen Rechte und ihre eigene Sicht haben. Denn ihre Würde liegt in dem begründet, der selbst ein Kind wurde und auch uns auffordert, wie ein Kind zu werden (vgl. Mt 18.3).