Abraham Verghese: Die Träumenden von Madras

von Annabell Kühnel

#BuchdesMonats #Indien #Thomaschristen

Bewegend und bildgewaltig erzählt Abraham Verghese anhand des Schicksals einer Familie fast ein ganzes Jahrhundert indischer Geschichte, erzählt vom Sieg des Wissens und der modernen Medizin, von der Überwindung von Klassen und Kasten – und von den ganz großen Dingen: von Liebe und Tod, Schuld und Erlösung.

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1900, Travancore, Südindien. Mit zwölf Jahren wird die mittellose Mariamma mit einem vierzigjährigen Witwer verheiratet. Dieser hat nicht nur einen Sohn aus erster Ehe, sondenr auch den sogenannten Zustand: vererbte Eigenheiten wie die Angst vor Wasser und eine Anfälligkeit für Taubheit, die gehäuft bei männlichen Familienmitgliedern aufzutreten scheinen. Schon bald muss Mariamma neben dem Ertrinken ihres Stiefsohns weitere tragische Einschnitte in ihem Leben erfahren, die aus dem Zustand folgen.

Der Roman Die Träumenden von Madras (im englischen Original passender: The Convenant of Water) schildert die Geschichte einer südindischen Familie über drei Generationen hinweg. Das Besondere dabei ist: Die Familie und ihr Umfeld sind – wie der Autor Abraham Verghese (* 1955) – Thomaschristen.

„Sie ist zu aufgeregt, um etwas anderes zu tun, als in die Kirche zu gehen und ihr kavani über den Kopf zu ziehen. Sie hat vergessen, wie es ist, so viele im Gottesdienst zu sehen, überall um sie herum Körper zu spüren, Teil des Stoffs zu sein statt nur ein Faden, der aus dem Gewebe gezogen worden ist. Die Männer sind zur Linken, die Frauen rechts, getrennt durch eine imaginäre Linie. Sie genießt die vertrauten Sätze der Eucharistie. Als der achen den Schleier lüftet und ihn in seinen Händen zittern lässt, fühlt sie Gottes Gegenwart, fühlt, wie der Heilige Geist sie überspült, Welle um Welle, und sie von den Beinen hebt. Freudentränen verschlieren ihren Blick. ‚Hier bin ich, Herr! Hier bin ich!‘, schreit sie stumm.“

Die ostkirchlichen Christen in Indien führen sich auf das missionarische Wirken des Apostels Thomas zurück. Doch die Einheit der indischen Thomaschristen brach im Kontakt mit den Portugiesen ab dem 17. Jahrhundert auseinander – und die Spaltungen vertieften sich in den folgenden Jahrhunderten weiter. Abraham Verghese selbst gehört der malankarisch-orthodoxen syrischen Kirche an. Auch wenn er immer wieder die Verbundenheit der malabarischen Christen zu Tradition und Glauben in seinem Roman hervorhebt, geht er nicht direkt darauf ein, welcher Kirche Mariamma angehört. Er macht nicht das Trennende und die Konflikte zwischen den Christen in Indien zum Thema, sondern sucht das Verbindende – auch über Religionsgrenzen hinweg.

In diesem Familienepos eröffnet Verghese nicht nur Einblicke in das Glaubensleben der Thomaschristen, sondern verarbeitet auch Aspekte aus der Lebensgeschichte seiner Mutter, der das Buch gewidmet ist, und lässt an Erfahrungen aus seinem eigenen Beruf als Arzt und Medizindozent teilhaben. Die medizinische Schnitzeljagd und die Berührung mit der Geschichte und der Glaubensvielfalt Indiens mögen auch als Entschädigung dafür gelten, dass der laienhafte Leser nicht allen medizinischen Ausführungen des Autors ohne Eigenrecherche folgen kann.

In der Verschränkung verschiedener Handlungsstränge über acht Jahrzehnte hinweg blickt Abraham Verghese auf die Geschichte einer Familie als einer Erzählung über Liebe und Abneigung, Leidenschaft und Schuld, Trauer, Glaube und Zweifel. Vor dem Hintergrund politischer und sozialer Umwälzungen wie der Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien, der Veränderung von Familienstrukturen und der Aufhebung des indischen Kastensystems entwickeln sich auch die Figuren, ihr Gaube und ihre Ansichten weiter. Die Suche nach der Ursache und möglichen Heilung des Zustands verlieren die Protagonisten dabei nie aus den Augen.

Mitreisend geschrieben fesselt der Roman und zieht den Leser in seinen Bann. Oprah Winfrey hat sich bereits jetzt die Filmrechte für dieses Buch gesichert. Wir können gespannt sein, wann eine Verfilmung von Die Träumenden von Madras in die Kinos kommt.

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Abraham Verghese
Die Träumenden von Madras
895 Seiten
15,00 €
ISBN: 978-3-458-68367-4

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