Hinter mächtigen Mauern, in einer öden Landschaft liegt geschützt vor der Außenwelt ein Kloster, das seine Besucher beim ersten Anblick in Staunen versetzt: Palmen, blühende Sträucher und andere Pflanzen säumen den sandigen Weg ebenso wie vereinzelt Teiche. Verschiedene Wohngebäude, Arbeitsstätten und Kirchen vermischen sich zu einem Mosaik, das dem Betrachter nur eine erste Ahnung von den Dimensionen der Anlage geben kann. Die Zimmer sind einfach, mit allem Nötigen ausgestattet. Die über den Matratzen aufgespannten Moskitonetze erinnern an ein Himmelbett. Junge und auch ältere Menschen, Freiwillige aus unterschiedlichen Ländern, auch Schwestern und Geistliche verschiedener Konfessionen trifft man hier an. Sie alle kommen zusammen zu den verschiedenen Gebeten in den geräumigen und einfachen Kirchen, ausgelegt mit bunten Teppichen und jede in ihrem eigenen Stil: Eine der Kirchen besticht durch ihre runden Formen und ihre Schlichtheit. Bänke und Ikonostase gibt es nicht. Eine andere Kirche ist im Eingangsbereich und im Inneren ganz mit Malereien verziert, die sich erkennbar an koptisches Bildprogramm anlehnen, aber doch einen eigenen Stil vorweisen: Die Vielfalt der Schöpfung, die ersten Menschen, die Lebensgeschichte der Muttergottes, der Stammbaum Jesu … Altes und Neues Testament werden als eine Heilsgeschichte miteinander verwoben. Dabei ist die Decke des Kirchengebäudes mit kreisförmigen Löchern durchstoßen, was den ganzen Kirchraum mit Licht durchflutet. Feiert die Gemeinschaft hier ihre koptisch-orthodoxe Liturgie steigt der Weihrauch im lichterstrahlten Raum so auf, dass eine ganz eigene, man könnte sagen ‚mystische‘, Atmosphäre entsteht. Die Gebete und Feiern unterscheiden sich im Einzelnen von der bekannten koptisch-orthodoxen Liturgie. Mit dem Wechsel von Gebet, Gesang und Lesungen, vorgetragen in verschiedenen Sprachen, erinnert das Abendgebet tatsächlich an die Feiern in Taizé.
Aber doch ist es hier anders: Die Gesänge sind nicht die bekannten aus Taizé, deren Melodien und Texte sich mehrstimmig im Wohlklang wiederholen. Hier werden koptische und arabische Gesänge vorgetragen, die einem Europäer ungewohnt und beim ersten Hören wenig harmonisch erscheinen. Auch die Raumgestaltung, der Weihrauch und die liturgische Kleidung der Geistlichen mit ihrer charakteristischen Kopfbedeckung vergegenwärtigen einem, dass man sich sehr wohl an einem koptischen Ort befindet. Mit Anafora scheint einem mehr als eine bloße Kopie von Taizé zu begegnen, aber auch etwas anderes als das traditionell Koptische. Anafora geht einen eigenen, ganz besonderen Weg, dem es seinem Gründer Amba Thomas zu verdanken hat: 1985 wurde er Mönch im Pachomiuskloster, zwei Jahre später zum Priester und ein Jahr darauf zum Bischof geweiht. Nach einem islamistischen Überfall, bei dem viele seiner Mitbrüder starben, und einer Phase der Resignation startete Amba Thomas 1998 einen Neuanfang. Er kaufte das Gelände, auf dem sich heute Anafora befindet. Dass Amba Thomas als charismatische Person gelten kann, ist nicht zu leugnen. Schaut man sich seine raren Internetauftritte an, sieht man einen lächelnden älteren Herrn mit einer gewissen Kraft, Ruhe und Ausstrahlung in seinen Worten. In Anafora zwischen Kairo und Alexandria in der Wüste gründete er ein christliches Retreat-Zentrum. Dieses Zentrum war zunächst als Rückzugsort vor allem für junge christliche Ägypterinnen gedacht, die in der ägyptischen Gesellschaft häufig der Bildung und Anerkennung ermangeln. Alphabetisierung- und Fortbildungskurse sollen dem Abhilfe schaffen. In Anafora soll ihnen Raum geboten werden für ganzheitliche Heilung, Aufrichtung und Schöpfung neuer Kraft aus dem Glauben an Christus. Den Namen Anafora leitet die Gemeinschaft vom griechischen Wort ἀναφορά her, was so viel wie „Erhebung“ bedeutet. Sogar Masterstudiengänge werden hier in Kooperationen mit anderen Universitäten mittlerweile angeboten. Neben junge Ägypterinnen kommen vor allem koptische Jugendliche aus aller Welt nach Anafora, helfen hier mit und nehmen an biblisch-koptischen Kursen teil.
Zu helfen gibt es viel: Anafora existiert in klassisch monastischer Tradition als ein autarker Ort, der sich größtenteils um seinen Eigenbedarf kümmert und das Lebensnotwendige selbst erzeugt. Deswegen werden nicht nur Oliven, Orangen, Mangos, Datteln und vieles mehr angebaut, Brot selbst gebacken, verschiedene Nutztiere gehalten, Fischteiche angelegt, sondern auch handwerklich viel selbst hergestellt. Eine koptisch-orthodoxe Schwesterngemeinschaft lebt vor Ort und betreibt einen Klosterladen, dessen Besuch sich unbedingt lohnt. Handgemachte Kerzen, Ikonen, Holz- und Töpferwaren sowie die für Anafora typischen Kreuze sind nur ein paar Souvenirs, die es zu kaufen gibt. Zudem wird in Anafora immer wieder neu gebaut: Die erste Kirche musste Amba Thomas, weil die Bauerlaubnis fehlte, noch so tiefergelegt bauen, dass sie außerhalb der Anlage nicht sichtbar war. Jetzt ist sie um zahlreiche weitere Kirch- und Kapellenbauten erweitert.
Dass dieser Ort etwas Besonderes ist, voll geistlicher Tiefe und Frieden, verbreitete sich über Konfessionsgrenzen hinweg. Dabei ist er nicht einfach eine Kopie von Taizé, sondern etwas ganz Eigenes, gleichzeitig zutiefst koptisch und offen für einen eigenen Weg: Anafora versteht sich in der Tradition der koptischen Klöster mit seinen Mönchen und Nonnen, die den Glauben an Christus in einem überwiegend islamischen Umfeld lebendig halten. Dabei scheut Amba Thomas nicht die Begegnung mit Andersgläubigen. Ökumenische Offenheit und der Gedanke liebender Einheit ist etwas, was Anafora zutiefst auszeichnet. Auf diese Weise verbindet Anafora Altes mit Neuem, koptische Tradition mit innovativen Ansätzen. Die Schöpfung von Amba Thomas ist selbst zu einem Ort geworden, dessen schöpferisches Potential nach außen wirkt und immer mehr Menschen begeistert. Wer selbst staunen möchte, ist dazu eingeladen, Anafora einen Besuch abzustatten und dem lebendigen Geist des koptischen Taizés zu begegnen.