„Der Sozialstaat darf sich nicht weiter zurückziehen“

Engagement fördern und sichtbar machen: Das ist eines der Ziele von „Mensch in Bewegung“, einem Gemeinschaftsprojekt von Katholischer Universität Eichstätt-Ingolstadt und Technischer Hochschule Ingolstadt. Unter dem Motto „Engagement hinterlässt Spuren“ besuchte das Projektteam dazu im Sommer engagierte Menschen und Initiativen an rund 50 Orten in der Region. Mit dem Herbstprogramm werden die Gespräche mit Vereinen und Initiativen, mit Forschenden und Kommunen fortgesetzt. Zum aktuellen Treffen sprachen Sabine Kunz (Kinderschutzbund Eichstätt), Anke Thiede (Novita Seniorenzentrum) und Prof. Dr. Annette Korntheuer (Grundlagen und Theorien Sozialer Arbeit, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt) darüber, wie Engagierte soziale Herausforderungen mitgestalten.

Wo zeigt sich heute denn Hilfebedürftigkeit? Wo benötigen Menschen Unterstützung?

Sabine Kunz: Viele Familien, denen wir beim Kinderschutzbund begegnen, sind von Armut betroffen. Sie benötigen finanzielle Hilfe, aber auch jemanden, der sie an der Hand nimmt. Zum Beispiel in der Schulbetreuung. Sprechen die Eltern kein Deutsch, sind die Kinder auf die Schul- und Hausaufgabenbetreuung angewiesen. Unterstützung bieten wir auch, wenn sich die Eltern eine Klassenfahrt nicht leisten können. Zwar können wir die finanzielle Situation nicht lindern, aber wir können die Angst nehmen, zu sagen, ich brauche finanzielle Unterstützung.

Annette Korntheuer: In der Forschung sehen wir, dass es sich um strukturelle Probleme handelt. Wir erleben eine zunehmende Ungleichheit in unserer Gesellschaft, die zu sozialen Problemen führt. Viele sind betroffen von finanzieller Armut, es fehlt der gesellschaftliche Zusammenhalt, wir bräuchten mehr Inklusion in den Schulen, aber auch bessere Unterstützungsstrukturen des Sozialstaates. Betroffen sind Familien mit Migrations- und Fluchterfahrungen, aber auch Familien mit Kindern mit Beeinträchtigung. Da freut es mich, wenn sie, Frau Kunz, inklusivere Angebote schaffen, zu denen sich Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen treffen können.

Anke Thiede: Ja. Ich selbst habe einen behinderten Sohn. Während der Schulzeit habe ich keine Inklusion erlebt. Man wurde abgesondert auf einer Schule für Körperbehinderte, einen Schulbegleitdienst gab es nicht. Das war die Zeit der Nicht-Inklusion. Jetzt erlebe ich, dass es Angebote zur Einzelförderung gibt, dass es das Ziel ist, Menschen mit Behinderung, sei es geistig oder körperlich, in den Alltag zu integrieren. Der Sozialstaat muss künftig mehr solcher Angebote schaffen, egal ob dies Kinder oder ältere Menschen betrifft, um eine besser Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.

Korntheuer
Annette Korntheuer ist Professorin für Grundlagen und Theorien der Sozialen Arbeit an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt

Wir sehen, es gibt Armut, es fehlt an sozialer Anerkennung. Wie beeinflusst das die Lebensqualität der Menschen?

Thiede: Das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Jeder hat eine andere Vorstellung von Lebensqualität. Ich finde es wichtig zu schauen: Was brauchen Menschen, um sich wohl zu fühlen? Was macht ihnen Freude? Das kann sehr unterschiedlich sein, je nachdem, welche Erfahrungen man im Leben gesammelt hat. Für viele Menschen bedeutet das aber, mit anderen Menschen in Kontakt zu sein, anderen begegnen zu können.

Korntheuer: Ja. Die strukturellen Probleme, die wir sehen, schränken die Lebensqualität allerdings ein. Wenn Menschen diskriminiert werden oder aufgrund von Armut nicht in der gleichen Weise teilhaben können, dann sinkt das Wohlgefühl. Die Forschungsdaten zeigen, dass es zu einer Schädigung kommen kann, wenn Menschen sich dauerhaft diskriminiert fühlen. Wenn Engagierte neue Möglichkeiten zur Begegnung schaffen, dann hat das positive Effekte. Deshalb möchte ich das Ehrenamt nicht so stark unter dem Hilfeaspekt sehen, sondern eher unter dem Aspekt der Begegnung.

Thiede: Das sehe ich genauso. Bei uns sind viele Ehrenamtliche aktiv, die selbst hilfebedürftig sind. Manchmal gibt es eine kleine Vergütung, zum Beispiel das Fahrgeld. Wichtiger ist für sie aber der Austausch, da sie sonst alleine wären.

Kunz
Sabine Kunz ist Geschäftsführerin des Kinderschutzbund Eichstätt e.V. und engagiert sich auch privat für Kinder und Jugendliche

Frau Kunz, sie sind beruflich beim Kinderschutzbund tätig, aber auch ehrenamtlich aktiv. Gehört das dazu?

Kunz: Ja, das ist ein Stück weit normal. Wir verfügen über kein großes Budget. Bei allen Aktivitäten, die wir anbieten, müssen wir stets auch überlegen, wie wir Geld einnehmen können. Ob das ein Adventsstand ist, für den wir eine Metzgerei im Vorfeld um eine Spende bitten, oder das Kinderprogramm zum Altstadtfest, zu dem wir begleitend Kaffee und Kuchen verkaufen. Auch unser Kleiderladen funktioniert so. Er spült Geld in die Kasse, aber nur, um sich selbst zu tragen. Der Laden selbst wird durch ein Team von 10 bis 15 Mitarbeiterinnen ehrenamtlich geführt.

Was treibt denn die Ehrenamtlichen an?

Kunz: Diejenigen, die bei uns im Verein engagiert sind, machen das aus innerer Überzeugung. Sie sagen: Mir geht es gut, ich möchte andere daran teilhaben lassen.

Thiede: Ja, ich stelle im Ehrenamt aber auch einen Wandel fest. Früher waren die Engagements langfristiger, heute erfolgen die Wechsel schneller. Corona war so eine Zeit. Wir haben einen Einkaufsdienst aufgebaut, viele Menschen haben sich sehr engagiert. Inzwischen sind sie schon wieder woanders aktiv. Auch bei Studierenden spielt das eine Rolle. Manche engagieren sich, um das Engagement in den Lebenslauf aufnehmen zu können, andere, weil sie wirklich etwas lernen möchten. Wieder andere nutzen die Gelegenheit, um sich beruflich zu orientieren.

Korntheuer: Ja, es gibt nicht nur altruistische Beweggründe, sondern auch eigene Interessen. Das ist völlig legitim und berechtigt, auch im Ehrenamt. Schwierig wird es aber, wenn der Anspruch auf Dankbarkeit überwiegt. Gerade in Abgrenzung zu professioneller sozialer Arbeit wird das schnell zum Problem, da es das Gegenüber in eine Situation bring, dankbar sein zu müssen.

Kunz: Da stimme ich ihnen zu. Andererseits: Wir sagen gerne mal „Danke“, da es die Leute motiviert, wenn sie sehen, dass das, was sie tun, wichtig und wertvoll ist. Es gibt ja nichts Schlimmeres als das Gefühl, dass man einfach nur etwas abarbeitet.

Korntheuer: Ja, viele sind wirklich dankbar. Das sehe ich in den Studien: Wenn Menschen sich anerkannt fühlen, anderen begegnen, die sie nicht abwerten, dann äußern sie sich sehr positiv darüber. In der professionellen sozialen Arbeit haben wir ja immer eine gewisse Distanz in den Unterstützungsbeziehungen. Im Ehrenamt müssen wir diese Distanz aber nicht aufbauen, Grenzen zu Freundschaften können hier fließend sein.

Thiede
Anke Thiede, Dipl.-Pflegewirtin (FH), MSc, leitet das Novita Seniorenzentrum in Großmehring und ist in mehreren Vereinen ehrenamtlich aktiv

Das Ehrenamt ergänzt die professionelle soziale Arbeit ja in vielen Bereichen. Könnten die bestehenden Angebote denn überhaupt ohne die Leistung Ehrenamtlicher aufrechterhalten werden?

Korntheuer: Wenn das Ehrenamt die soziale Arbeit ersetzt, dann kann sich der Sozialstaat weiter zurückziehen. Leider ist das in einigen Bereichen bereits geschehen. Zum Beispiel füllen die Tafeln, die es ja auch in Eichstätt oder Ingolstadt gibt, eine Lücke, die im Zuge der Hartz 4 Reformen entstanden ist, sodass der Sozialstaat hier weniger Handlungsdruck spürt. Da, wo sich soziale Arbeit und Ehrenamt gegenseitig ergänzen, wird die besondere Stärke des bürgerschaftlichen Engagements aber deutlich. Ehrenamt ermöglicht es, das unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen zusammenkommen.

Kunz: Gerade für Kinder ist das sehr wichtig. Sie nehmen ihre Situation oftmals einfach an, weil sie es zu Hause genauso erleben, auch die Ausweglosigkeit. Hier brauchen sie ganz dringend Unterstützung, zum Beispiel von Ehrenamtlichen. Der Staat kann das nicht leisten, er kann lediglich die finanzielle Situation verbessern.

Korntheuer: Ja, aber das sollte er.

Kunz: Ja, und er sollte Angebote machen, um es den Eltern zu ermöglichen, aus der Armutsschiene herauszukommen.

Thiede: Wir werden künftig allerdings weit mehr Ehrenamtliche benötigen, da sich die Altersstruktur unserer Gesellschaft verändert. Die Menschen werden heute älter. In einer Studie haben wir gefragt, was Menschen sich wünschen, um sich nicht einsam zu fühlen. Gezeigt hat sich: Nicht die 70 bis 85-Jährigen waren einsam, sie treffen sich mit anderen, besuchen Yoga-Kurse. Aber die Menschen, die 90 Jahre und älter sind, die alleine leben und nicht mehr aus dem Haus kommen, nach denen kein Nachbar mehr schaut, sie berichteten von Einsamkeit.

Ich sehe viele Schnittstellen zwischen ihren Tätigkeitsbereichen. Könnten Sie sich vorstellen, künftig stärker zusammenzuarbeiten?

Korntheuer: Ja, studentische Initiativen sind da besonders wertvoll, da sie auf Begegnung zielen und nicht auf den Ersatz sozialstaatlicher Leistungen. Ich kann mir vorstellen, dass das innerhalb der Universität oder durch Projekte wie „Mensch in Bewegung“ weiter gestärkt werden kann. Ich selbst bin im Leitungsteam des „StudiumPro“. Dort haben wir Angebote, die es Studierenden ermöglichen, rauszugehen und in die Gesellschaft hineinzuwirken.

Kunz: Ja, viele Studierende unterstützen uns im offenen Ganztagsangebot. Die meisten sehen das als Chance, ihr späteres Berufsfeld kennenzulernen. Sie betreuen Hausaufgaben, schaffen Freizeitangebote. Gute Erfahrungen haben wir mit dem Zertifikatskurs „Gesellschaftliches Engagement“ an der KU gemacht. Durch das studentische Engagement gelangen neue Ideen in unser Team, das ist eine sehr schöne Zusammenarbeit. Interessant war auch der Ehrenamtstag an der Universität. Durch die Workshop-Angebote sind neue Ideen entstanden, wie wir etwas für die Kinder in Eichstätt bewirken können.

Thiede: Aus dem Studium ist mir noch in Erinnerung: Praxis ohne Theorie lässt nicht viel Entwicklung zu. Etwas nur theoretisch zu betrachten, bleibt umgekehrt jedoch auch leer. Durch die Praxis, durch Projekte und Begegnungen können die Studierenden ihre persönlichen Kompetenzen wirklich erweitern. Umgekehrt können wir in der Praxis mit Blick auf künftige Entwicklungen oder mögliche Zielrichtungen sehr viel von der Theorie lernen.