Sozialpsychologin Prof. Dr. Elisabeth Kals über Ängste und Solidarität

Die Gesellschaft kann an der Corona-Krise auch wachsen, wenn der moralische Kompass darauf ausgerichtet ist, Schwache sowie Helfende in besonderer Weise zu schützen. „Viele von uns werden schon jetzt positive Interaktionen im Alltag erleben. Ganz nach dem Motto ,In dieser Zeit der Krise müssen wir zusammenhalten‘“, betont die Sozialpsychologin Prof. Dr. Elisabeth Kals von der KU. Es gelte, solche Beispiele stärker publik zu machen, damit sie zur Nachahmung führen und ein Klima der Solidarität stärken. Ein reflektierter Medienkonsum, bei dem auch solche positiven Beispiele wahrgenommen werden, gehöre dazu.

Interview mit Prof. Dr. Elisabeth Kals (Inhaberin der Professur für Sozial- und Organisationspsychologie an der KU)

 

An Ängsten und Bedrohungen scheint es nicht zu fehlen - vom Klimawandel über Terrorgefahr bis zur nächsten Wirtschaftskrise. Wie kommt es dazu, dass Menschen manche Dinge, wie das Coronavirus, mehr fürchten als andere?

Auch hier ist die Antwort wie so oft: Das hängt von vielen Ursachen ab, ist also multikausal verursacht. Wir haben in Deutschland Gott sei Dank wenige Risiken, die bei uns aktuell ein vergleichbares individuelles Gefühl der Bedrohung auslösen wie das neue Coronavirus. Zudem liegt noch weniger gesichertes Wissen zum Coronavirus vor als zu anderen Viruserkrankungen. Die Informationslage verändert sich ständig. Entsprechend haben wir heute schon einen anderen Wissensstand verglichen mit dem Zeitpunkt, als das Thema aufkam. Mit dem zunehmenden Wissen der medizinischen Experten, allen voran den Gesundheitsexperten und Virologen, verändern sich die empfohlenen Maßnahmen und Empfehlungen. Zugleich erhalten auch wir als Teil der Allgemeinbevölkerung stetig aktualisiertes und teils neues Wissen. Diese Dynamik und Veränderung in den objektiven Daten und Einschätzungen tragen zur Verunsicherung bei.

Dies betrifft in besonderer Weise die Ausbreitung des Virus, die zunächst von Vielen unterschätzt worden ist. Zahlen hierzu, meist verbunden mit Zahlen zu neuen Todesfällen, werden im Internet im „live-ticker“ berichtet. Einerseits wird so das Bedürfnis nach aktueller Information bedient, doch andererseits ist der Grat zur unnötigen Eskalation des Themas schmal. Sogar die Besonnenen benutzen Signalwörter, wenn sie heraufbeschwören, dass Panik unangemessen sei. Das Unbewusste hört den Begriff „Panik“ und nicht die Botschaft, dass Panik nicht angemessen ist.

Diese Informationsflut und die besondere Aufbereitung der Informationen gehen mit dem Gefühl einher, keine Kontrolle über die Situation zu haben, nicht sicher einschätzen zu können, mit welcher Gefahr wir es denn hier zu tun haben. Und die sich ständig verändernden Empfehlungen, die auf sorgfältigen Kosten-Nutzen-Abwägungen beruhen, bestätigen, wie dynamisch die Lage ist.

Was geschieht aus sozialpsychologischer Sicht gerade in den Gesellschaften rund um das Coronavirus? Was macht die Angst vor dem Virus mit uns? Wie kommt es zu Hamsterkäufen?

Die Verbreitung des Virus entsteht hauptsächlich durch Tröpfcheninfektion und damit durch direkte soziale Interaktion. Dadurch steht direkt aber auch mittelbar das Miteinander im Zentrum des Geschehens. Dies ist eine Chance, wenn dadurch ein Gefühl der gemeinschaftlichen Verantwortung entsteht aber auch eine Gefahr, wenn es z.B. zu Ausgrenzungen, nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilhaben können oder gar zu Schuldvorwürfen gegenüber infizierten Personen kommt. Schuld setzt jedoch voraus, dass man Kontrolle und Verantwortung darüber hat, sich anzustecken oder nicht. Einfache Hygieneregeln, wie gründliches Händewaschen und Hustenetikette, helfen zwar, andere zu schützen. Dennoch sind offenkundig die Möglichkeiten gering, sich selbst sicher schützen zu können. Daher ist hier eine Kontrollillusion anzunehmen, der das Bedürfnis nach Kontrolle zugrunde liegt.

Die Hamsterkäufe können ebenfalls Ausdruck dieser Kontrollillusion sein, um so seine Ängste und Sorgen in den Griff zu bekommen. Dadurch sind möglicherweise genug Vorräte im Haus, um im Zweifel nicht aus dem Haus zu müssen, um autark überleben zu können. Auf diese Weise wird versucht - möglicherweise weder bewusst noch reflektiert - Kontrolle über sein Leben und den Schutz seiner Gesundheit zurückzugewinnen.

Hinzu kommt gewiss ein Herdeneffekt: Wenn alle anderen Einkäufe hamstern, hat das eine soziale Signal- und Modellfunktion, sich auch entsprechend zu verhalten. Das kann zu einem Teufelskreis führen, bei dem letztlich sogar die Besonnenen beginnen, mehr Mehl und Nudeln in den Einkaufswagen zu laden, als sie es üblicherweise täten. Dies geschieht aus der durchaus erfahrungsbasierten Sorge, dass durch die Hamstereinkäufe der anderen nicht mehr zu allen Zeitpunkten und in allen Geschäften bestimmte Lebensmittel zu bekommen sind. Um nicht leer auszugehen, bunkert man selbst auch, imitiert und verstärkt also das Verhalten der anderen.

Verstärkend wirkt der Einfluss der Medien oder auch die Kraft der Bilder leerer Supermarktregale, die längst nicht nur selbst erlebt, sondern auch durch Medien gezeigt werden.

Welche Funktion haben die Ängste?

Evolutionsbiologisch haben Ängste eine wichtige Funktion: Sie zeigen uns Gefahr an und bereiten uns vor, uns vor der möglichen Gefahr zu schützen, z.B. durch Fluchtverhalten. Ohne Angst und Vorsicht hätte der Mensch nicht überlebt. Doch um welche Ängste geht es bei Corona überhaupt? Ganz gewiss ist dabei nicht an die eine Angst, sondern an Ängste im Plural zu denken: Besteht die Angst, sich selbst zu infizieren, möglicherweise ernsthaft zu erkranken oder gar daran zu sterben? Gilt die Angst und Sorge Personen, die einem nahestehen und zu einer der Risikogruppen gehören? Richtet sich die Angst darauf, nicht zu wissen, wie man damit umgehen soll, wenn der Verdacht besteht, sich infiziert zu haben? Ist es die Angst, im Krankheitsfall medizinisch nicht gut versorgt zu werden, weil gleichzeitig so Viele erkrankt sind? Angst, die 14tägige Quarantäne nicht unbeschadet überstehen zu können? Angst, dass man im Fall einer Infektion sozial ausgegrenzt wird? Angst, andere geliebte Menschen anstecken zu können? Angst vor eigenen wirtschaftlichen Einbußen oder gar dem Verlust des eigenen Arbeitsplatzes? All das sind Ängste, die einen selbst oder die seinen betreffen.

Möglicherweise geht es aber auch verstärkt um Ängste aufgrund sozialer und gesellschaftlicher Verantwortung: Besteht Angst, dass unsere Gesellschaft ihrer sozialen Verantwortung nicht ausreichend gerecht wird? Angst, dass schutzbedürftige Menschen, von der Gemeinschaft nicht ausreichend durch Einhalten der Präventionsmaßnahmen geschützt werden? Angst, dass die medizinischen Rahmenbedingungen nicht mehr gewährleistet werden können, damit sich alle Bürgerinnen und Bürger sicher fühlen können? Angst, dass das Virus mit seiner Gefahr unsere Gesellschaft spaltet, möglicherweise sogar Länder und Völker auseinanderbringt und großen volkswirtschaftlichen Schaden anrichtet?

Was bedeutet das konkret?

Es ist wichtig, „die Angst“ zu verstehen und zu spezifizieren. Dazu muss geklärt werden, welche Urteile und Einschätzungen hinter den verschiedenen Ängsten stehen, um dann diese Urteile und Kognitionen, die die Ängste bedingen, zu verändern. Das ist eine der Grundaussagen kognitiver Emotionsmodelle. Auf diese Weise werden aus der diffusen Angst konkrete Sorgen und Ängste, die auf Urteilen beruhen und denen sich aktiv begegnen lässt, indem wir uns sachlich informieren, unsere Urteile hinterfragen und entsprechend handeln.

Was würden Sie vermuten, was dann passiert?

Die Informationslage ist hervorragend: Im Internet lassen sich gezielt seriöse Informationen finden. Das Robert Koch-Institut als zentrale Einrichtung der Bundesregierung ist dafür die Quelle der Wahl. Hier stehen stets aktualisierte Informationen, etwa zur Risikobewertung, und Empfehlungen, etwa zur Prävention, zur Verfügung. Dadurch erfahren wir, dass viele der Maßnahmen aktuell darauf ausgerichtet sind, die Verbreitung des Virus zu verlangsamen, damit Gesundheitssysteme entlastet, Risikogruppen mit Priorität versorgt und schwere Verläufe sehr gut behandelt und idealerweise vermieden werden. Man wird auch erfahren, dass man selbstverständlich allgemeine Vorsichtsmaßnahmen ergreifen kann und soll, wobei z.B. das gründliche Händewaschen, Hustenetikette und Abstandhalten äußerst ökonomische und wirkungsvolle Mittel der Prävention vieler Krankheiten sind. Aber letztlich gibt es keinen absoluten Schutz, denn Abstandhalten ist nur in wenigen Kontexten wirklich möglich; andererseits bedeutet Nähe nicht zugleich Erkrankung. Zudem geht es ganz besonders auch um diejenigen in unserer Gesellschaft, die vorrangigen Schutz benötigen. Die moderne Gesellschaft steht dabei in der sozialen Verantwortung, Schutzbedürftige durch präventive Maßnahmen so effektiv wie möglich zu schützen.

Was kann der Einzelne dazu beitragen, und wie kann er seine Ängste überwinden?

Jeder kann seinen Beitrag leisten. Das Einhalten ausgesprochener Empfehlungen von Experten, wie individuelle häusliche Quarantäne, gehört dazu.

Diese Empfehlungen beruhen immer auf einem Abwägungsprozess verschiedener Werte und Interessen. Entscheidungen werden dabei nicht leicht gefällt, wie das Schließen von Bildungseinrichtungen oder Firmen, die Absage von Veranstaltungen. Kosten und Nutzen sind immer sorgfältig abzuwägen. Der Schutz der Schwächeren sollte dabei im Zentrum stehen. Ein Beispiel: Die Schließung von Kindergärten, Kitas oder Grundschulen kann möglicherweise zur Folge haben, dass die Kinder berufstätiger Eltern gegebenenfalls durch Großeltern betreut werden, die zu den Risikogruppen gehören.

Die Hoffnung ist, dass durch Reflexion und Veränderung der Urteile und Einschätzungen nicht nur Ängste geringer werden und sich auf ein gut begründetes Maß einpendeln, sondern auch, dass positiv erlebte Emotionen wachsen, wie etwa Vertrauen, Zuversicht aber auch Empathie für andere, die möglicherweise stärker bedroht und gefährdet sind als man selbst. Auch hier gilt wieder, genau zu schauen, worauf sich die jeweilige Emotion richtet. Beim Vertrauen kann dies beispielsweise Vertrauen sein, dass in Deutschland keine medizinischen Informationen vorenthalten werden, sondern wir bestmöglich informiert werden. Vertrauen, dass Entscheidungsträger so verantwortungsvoll wie möglich in der jetzigen Situation handeln und sich in ihren Entscheidungen an den jeweiligen tagesaktuellen Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts oder entsprechender Ministerien ausrichten. Vertrauen, dass das medizinische Personal bereit ist, sich aufgrund seiner Identifikation mit seiner Aufgabe und Verantwortung im Falle einer Erkrankung auf bestem medizinischen Niveau um Linderung und Heilung bemühen wird. Vertrauen, dass wir insgesamt in einem Land leben dürfen, dass eines der besten Gesundheitssysteme der Welt hat. Und vielleicht auch das tiefe Vertrauen, dass die Gesellschaft die Krise meistern wird.

Neben dem Vertrauen kann sich auch die Zuversicht und die Empathie auf verschiedene Situationen oder Inhalte beziehen, die jedoch eines gemeinsam haben: Mit der aktuell unsicheren Situation so konstruktiv wie eben möglich umzugehen, Angst zu relativieren und positiv erlebte Gefühle zu fördern - auch, wenn das auf den ersten Blick im Widerspruch zur Krise steht.

Wie steht es um die menschliche Solidarität in solchen Phasen?

Aus diesen positiven Emotionen - und hier vor allem aus dem empathischen Erleben der Situation und Bedrohung anderer - kann auch Solidarität erwachsen: Solidarität mit denjenigen, die zu den Risikogruppen gehören, aber auch mit all denjenigen, die durch die Krise beruflich oder privat besonders gefordert sind und dabei oft an ihre Grenzen gehen. Auch der soziale Austausch, das tagtägliche Gespräch mit Fremden über das Dauerthema „Corona“ kann Gemeinschaft stiften, wenn nicht Ausgrenzung, sondern gemeinsame Verantwortung im Vordergrund steht.

Wenn der moralische Kompass ist, Schwache sowie Helfende in besonderer Weise zu schützen, kann eine Gesellschaft an dieser Krise auch wachsen und gestärkt aus ihr hervorgehen. Viele von uns werden schon jetzt positive Interaktionen im Alltag erleben. Ganz nach dem Motto „In dieser Zeit der Krise müssen wir zusammenhalten.“ Auch hierzu gibt es viele konkrete und ermutigende Beispiele, die sich u.a. im Netz finden lassen. Etwa zwei Wiener Studentinnen die ihren Nachbarn, die zur Risikogruppe gehören (in dem Fall wurde genannt: Alter über 65 Jahre, Immunkrankheit oder ein geschwächtes Immunsystem), Hilfe bei Einkäufen und anderen Erledigungen anbieten. Diese Beispiele stärker publik zu machen, könnte zur Nachahmung führen und ein Klima der Solidarität stärken. Ein reflektierter Medienkonsum, bei dem auch solche positiven Beispiele wahrgenommen werden, gehört dazu.

Wie können wir lernen, trotz einer diffusen Angst gut zu leben?

Indem wir uns unserer Gefühle und Gedanken bewusstwerden, unser Handeln reflektieren und es an sozialer Verantwortung und Gerechtigkeit ausrichten. Denn dazu sind wir evolutionsbiologisch als einzige Spezies fähig!

 

Interview: Constantin Schulte Strathaus