"Widerspruch und Kritik sind unverzichtbar": Über Grundrechte in Zeiten von Corona

Ist die Einschränkung von Grundrechten angesichts der Corona-Pandemie angemessen? Diese und weitere Fragen stehen im Mittelpunkt eines Gespräches mit dem Politikwissenschaftler Prof. Dr. Klaus Stüwe, der an der KU den Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft innehat. Das Interview ist Teil des Corona-Forums - einem gemeinsamen Projekt von Donaukurier und KU initiiert durch das Projekt „Mensch in Bewegung“, das Fragen aus der Bevölkerung aufgreift.

Herr Stüwe, eine Leserin fragt danach, ob die aktuellen Einschränkungen der Grundrechte angemessen sind. Wie beurteilen Sie die Situation?

Der Schutz der Bürger vor inneren und äußeren Gefahren ist eine wesentliche Aufgabe des Staates. Demokratien sind nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, Leib und Leben ihrer Bürger zu schützen. Da kann es geboten sein, dass der Staat Freiheitsrechte vorübergehend einschränkt. Eingriffe in individuelle Grundrechte, wie sie auch in vielen anderen Demokratien vorgenommen wurden, sind somit prinzipiell legitim. Allerdings unterliegen diese engen Schranken: Sie sind nur solange rechtmäßig, wie sie ihrem Zweck dienen. Sie müssen durch Gerichte überprüft werden können. Jede Notstandsmaßnahme muss zudem zeitlich beschränkt sein. Schließlich müssen die Maßnahmen verhältnismäßig sein. Das erfordert ein kluges Abwägen, um eine Balance zwischen dem Schutz individueller Grundrechte und dem öffentlichen Interesse an einer effektiven Infektionsbekämpfung zu finden. Ich habe den Eindruck, dass es in Deutschland alles in allem ganz gut gelungen ist, diese schwierige Balance zu wahren.

In verschiedenen Städten, auch in Ingolstadt, demonstrieren Bürger aber gegen die Einschränkungen …

Auch und gerade in der Krise sind Widerspruch und Kritik unverzichtbar. Sie helfen, Maßnahmen zu überprüfen und das rechte Maß im Kampf gegen die Pandemie zu finden. Daher ist es völlig in Ordnung, dass Bürgerinnen und Bürger auf die Straße gehen, um gegen eine – ihrer Meinung nach – zu große Einschränkung von Freiheitsrechten zu protestieren. Dieses Demonstrationsrecht wurde, wenn Hygienemaßnahmen und Abstandsregeln beachtet werden, auch von Gerichten bekräftigt. Das zeigt, dass der Rechtstaat funktioniert. Allerdings habe ich den Eindruck, dass es nicht allen, die an den Demonstrationen teilnehmen, um die Wahrung ihrer Grundrechte geht. Einzelne nutzen die Öffentlichkeit leider auch, um krude Verschwörungstheorien zu verbreiten oder sogar rechtextreme Thesen zu propagieren.

Die Bundesregierung hat seit einigen Monaten die schwierige Aufgabe, in einer sehr unsicheren Situation über die Notwendigkeit der Maßnahmen zu informieren. Ist das gelungen?

Bislang ist es nach meiner Einschätzung sehr gut gelungen, die Pandemie effektiv zu bekämpfen und dennoch rechtsstaatliche und demokratische Prinzipien zu wahren. Blickt man in andere Demokratien, sieht man, wie teilweise noch viel rigoroser in Freiheitsrechte eingegriffen wurde. In einigen Ländern wurden Regierungschefs mit geradezu autoritären Vollmachten ausgestattet. Wieder andere versuchen, durch üble Desinformation vom politischen Versagen in ihrem Land abzulenken. Im Gegensatz dazu erscheinen mir die in Deutschland getroffenen Maßnahmen angemessen. Mein Eindruck ist auch, dass die Öffentlichkeit adäquat über die Notwendigkeit der Schutzkonzepte informiert wurde. Natürlich wurden auch Fehler gemacht. Wer könnte behaupten, in einer solchen historischen Ausnahmesituation alles richtig machen zu können? Insgesamt konnte das Infektionsgeschehen aber doch besser kontrolliert werden als in anderen Ländern.

Kritisiert wird aber, dass die Bundesländer unterschiedlich handeln?

Dass der Katastrophenschutz nicht ausschließlich Sache des Bundes ist, sondern vorwiegend in der Kompetenz der Länder liegt, hat zu einem erfolgreichen Schutz beigetragen. Diese Art von Gewaltenteilung erweist sich in der Krise als Vorteil. Je nachdem, wie stark bestimmte Bundesländer von der Pandemie betroffen sind, können sie so flexibel reagieren.

Gelegentlich entsteht allerdings der Eindruck, es gehe vor allem um die Vermittlung von Verhaltensregeln. Politik finde eher als Didaktik statt. Hat das Folgen für unsere politische Kultur?

Ich glaube nicht, dass es primär um die Vermittlung von Verhaltensregeln geht. Entscheidend sind für mich Verantwortung und Vertrauen. Wer ein politisches Amt innehat, trägt eine hohe Verantwortung. Politiker können diese Verantwortung aber nur wahrnehmen, wenn die Bürger ihnen vertrauen. Gerade in ungewissen Zeiten muss das Handeln der demokratischen Amtsträger sogar noch stärker von Vertrauen getragen werden als in normalen Zeiten. Bewertet man aktuelle Umfragen, ist die Akzeptanz der angeordneten Maßnahmen überaus groß: Zwei Wochen nach ihrer Anordnung wurden die Kontakteinschränkungen von 93 Prozent der Bürger grundsätzlich akzeptiert. Danach ging die Zustimmung zwar zurück. Dennoch wurden die Maßnahmen stets von einer Mehrheit mitgetragen. Das zeigt, dass die Menschen den politisch Verantwortlichen derzeit in hohem Maße vertrauen. Das wäre sicher nicht der Fall, wenn die Leute den Eindruck hätten, es ginge hier nur um politische Didaktik …

Wie unterscheidet sich die politische Kommunikation in Deutschland von anderen europäischen Ländern? Emmanuel Macron spricht in Frankreich ja von einem „Krieg“ gegen das Coronavirus.

Bei uns wäre eine solche Kriegsrhetorik sicher fehl am Platz. In Deutschland gibt es eine Menge historischer Gründe, warum man nicht bei jeder Gelegenheit vom Krieg spricht. Aber andere Länder haben andere historische Erfahrungen und auch andere politische Kommunikationskulturen. In Frankreich und stärker noch in den USA benutzt man militärische Vokabeln weitaus häufiger als hierzulande. Diese plakative Sprache bleibt sicherlich nicht ohne Effekte. Einige Franzosen und US-Amerikaner finden das gut, andere haben ihre Probleme damit. Aus den genannten Gründen steht es uns aber nicht unbedingt zu, die politische Sprache anderer Länder negativ zu bewerten oder gar zu verurteilen.

In den USA wurden die Proteste der Bevölkerung durch den Präsidenten Donald Trump angeregt. Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro hat die Gefahr wiederholt heruntergespielt. Beginnt politische Verantwortung nicht auch bei der Kommunikation?

So ist es. Im Ausnahmezustand ist nicht nur angemessenes Handeln erforderlich, auch die richtige Kommunikation ist ein entscheidender Faktor bei der Bewältigung der Krise. Politische Verantwortung zeigt sich jetzt dadurch, dass man Gefahren weder übertreibt noch herunterspielt. Und was die Krisenmaßnahmen anbelangt, sind eine gute Begründung und ständige Transparenz bei der Umsetzung unerlässlich. Nur dann ist eine öffentliche Akzeptanz der Maßnahmen gesichert.

Haben wir es hier mit eigenwilligen Persönlichkeiten zu tun? Oder lassen sich die Unterschiede mit der politischen Kultur der Länder erklären? 

Hier kommt beides zusammen. Politische Kommunikation läuft in den USA zum Beispiel viel aggressiver ab als anderswo. Es ist dort nun einmal Teil der Mentalität vieler Politiker, dass Konflikte personalisiert und politische Gegner persönlich angegriffen werden. Im Fall des aktuellen Präsidenten Donald Trump kommt allerdings ein persönlicher Stil hinzu, der in dieser Form wohl einzigartig in der Geschichte des Präsidentenamtes sein dürfte. Wissenschaftliche Fakten werden umgedeutet, Risiken verharmlost, Kritiker diffamiert und internationale Partner düpiert. Dabei stehen die USA im internationalen Vergleich bei der Bekämpfung der Pandemie gar nicht gut da. Dass Trump dennoch nach wie vor bei vielen US-Bürgern Zustimmung erhält, ist schwer zu verstehen, aber mit der besonderen politischen Kultur des Landes zu erklären.

 

Zur Person:

Prof. Dr. Klaus Stüwe ist Inhaber des Lehrstuhls für Vergleichende Politikwissenschaft und Vizepräsident für Internationales und Profilentwicklung der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. In seiner Forschung beschäftigt er sich unter anderem mit Demokratietheorie, politischer Kommunikation und der europäischen Integration.

 

Das Gespräch führte Thomas Metten. Er ist Mitarbeiter des Projekts „Mensch in Bewegung“. Durchgeführt wird das Projekt gemeinsam von KU und Technischer Hochschule Ingolstadt. Die Förderung des Projektes erfolgt im Rahmen der Förderinitiative „Innovative Hochschule“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) sowie durch das Land Bayern.