An den Fundamenten von Wirtschaft und Gesellschaft

„Der freiheitlich säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“, bemerkte einmal der Staats- und Verwaltungsrechtler sowie Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde. Er warb damals für die noch junge Bundesrepublik und fragte, ob nicht „der säkularisierte weltliche Staat aus jenen inneren Antrieben und Bindungskräften leben muss, die der religiöse Glaube seiner Bürger vermittelt. Freilich nicht in der Weise, dass er zum ,christlichen' Staat rückgebildet wird, sondern in der Weise, dass die Christen diesen Staat in seiner Weltlichkeit nicht länger als etwas Fremdes, ihrem Glauben Feindliches erkennen, sondern als die Chance der Freiheit, die zu erhalten und zu realisieren auch ihre Aufgabe ist“. Vor diesem Hintergrund hat eine Tagung an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät Ingolstadt (WFI) der KU unter dem Titel „Normative Foundations of Open Societies“ gefragt, was offene Gesellschaften heutzutage trägt. Neben 40 Vorträgen mit internationalen Referentinnen und Referenten standen auch zwei prominent besetzte öffentliche Podiumsdiskussionen auf dem Programm.

Zur Frage „Braucht die moderne Gesellschaft noch Religion?“ diskutierten Kardinal Dr. Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising, Dr. Karl-Heinrich Manzke, Landesbischof der Landeskirche Schaumburg-Lippe, und der Jurist Prof. Dr. Steffen Augsberg, Mitglied des Deutschen Ethikrates. Kardinal Marx thematisierte in seinem Impulsvortrag zunächst, was genau unter einer modernen Gesellschaft zu verstehen sei.  Das nach dem Zusammenbruch der UdSSR vom Politikwissenschaftler propagierte „Ende der Geschichte“ und die damit verbundene allgemeine Durchsetzung von Demokratie und Marktwirtschaft werde mittlerweile wieder eher zögerlich als „letzte Evolutionsstufe“ der gesellschaftlichen Entwicklungen gesehen. Auch für die mitteleuropäische Perspektive konstituiere sich eine soziale Gesellschaft durch mehr als nur Wohlstand und einen Rechtsstaat, sondern erfordere auch Solidarität und Orientierung an den Schwachen und einen Sinn für die Bewahrung der Schöpfung. „Dazu kann das Christentum durchaus etwas beitragen“, so Marx. Demokratie und Kapitalismus seien auch weltanschaulich konnotiert und setzten voraus, dass sich Menschen engagieren. „Ich kann nicht erkennen, warum nicht auch die Institution des Christentums hier keine Rolle spielen sollte. Gerade eine Gesellschaft, die auf verantwortliche Freiheit setzt, sollte alle Ressourcen nutzen, um Menschen zu befähigen, in Freiheit verantwortlich zu handeln.“ Gerade Hoffnung sei ein Antrieb für Engagement in der Gesellschaft.

Landesbischof Karl-Heinrich Manzke differenzierte den Begriff von modernen Gesellschaften nach Weltregionen: Zwar seien sie generell im Hinblick auf die Individualisierung von Lebensentwürfen, das Nebeneinander von Überzeugungen und die Globalisierung von Ökonomie gleich. „Vergleicht man jedoch in Frankreich, Großbritannien, den USA und Deutschland die Bedeutung von Religion in öffentlichen Räumen, gibt es erhebliche Unterschiede. In Frankreich prägt die ,grande nation‘ das Selbstverständnis, in den USA spielt Religion hingegen eine große Rolle in öffentlichen Räumen.“ Der Begriff der modernen Gesellschaft sei damit an sich unpräzise. Die Verknüpfung „Je säkularer, desto weniger Religion“ greife nicht. Religion sei weiterhin eine Option, jedoch nicht der einzige Deutungshintergrund. „Wenn die pausbäckigen Gewissheiten von denjenigen verschwunden sind, die Religion für überflüssig und schädlich halten, und gleichzeitig die Gewissheiten von Gläubigen verschwunden sind, dass nur sie zuständig sind für Werte, dann ist ein guter Dialog möglich“, so Manzke weiter.

Prof. Dr. Steffen Augsberg
Prof. Dr. Steffen Augsberg

Die moderne Gesellschaft ist laut Prof. Dr. Steffen Augsberg gekennzeichnet von Pluralisierung und Fragmentierung. Werte als positive Orientierungsmerkmale seien dabei wichtig, um einem Auseinanderdriften entgegenzuwirken. Religionen würden hierfür ohne Frage eine Rolle spielen, seien jedoch nicht die einzigen Stifter. Gleichzeitig würden pseudoreligiöse Artikulationen überhandnehmen, die auch als eine Reaktion auf eine stärkere Konzentration von Religion auf diesseitige Fragen zu deuten sei.

„Gott ist in Jesus von Nazareth Bruder aller Menschen geworden. Es gibt eine Menschheitsfamilie, in der alle zusammengehören – egal ob arm oder reich, schwarz oder weiß. Ich möchte, dass die Kirche auf der Seite der Freiheit steht, auf der Seite der Menschenrechte, der Geschwisterlichkeit aller Menschen“, betonte Kardinal Marx. Das Christentum sei die einzige organisierte Weltreligion, die auf allen Kontinenten präsent sei. Doch das Christentum können nicht mit einem reinen Bezug zur Vergangenheit bestehen. Zudem sei Religion immer wieder als Schwungrad für kulturelle Identitäten missbraucht worden. Einen aktuellen Bezug stellte hier Landesbischof Manzke zur Rolle der russisch-orthodoxen Kirche im laufenden Ukrainekrieg her: „Ich hatte gehofft, so etwas kommt nicht mehr vor. Das ist eine Katastrophe für das Ansehen des Christlichen.“

Für den Juristen Steffen Augsberg ist die Form organisierter Kirchen eine für Deutschland absolut spezifische Situation. Andere Rechtsstaaten funktionierten auch ohne diese Konstruktion. Insofern seien Religionsgemeinschaften für den Verfassungsstaat nicht zwingend erforderlich. Die deutsche Verfassung sei in einer spezifischen historischen Situation entstanden. Kardinal Marx wandte ein, dass Demokratie weltweit auf dem Rückzug und nicht selbstverständlich sei. „Ich habe meine Zweifel, wenn man meint, es werde schon alles irgendwie funktionieren, wenn alle nur das Grundgesetz gelesen haben.“ Landesbischof Manzke ergänzte, dass Moral ohne Transzendenz nicht möglich sei. Demokratie verlange Menschen, die zu Selbstbeschränkung in der Lage seien und die sich zurücknehmen könnte. Es sei wahrscheinlich, dass religiös gebildete Menschen hierzu einen besonderen Beitrag leisten könnten: „Der Staat braucht in den Werten und der Sittlichkeit gebundene Menschen.“

Impulsvortrag von Prof. Dr. Christiane Woopen
Impulsvortrag von Prof. Dr. Christiane Woopen

Mit der moralischen Verantwortung multinationaler Unternehmen setzte sich bei der zweiten Podiumsdiskussion Professorin Christiane Woopen (von 2017 bis 2021 Vorsitzende des Europäischen Ethikrates), Weihbischof Dr. Dr. Anton Losinger (langjähriges Mitglied im Deutschen Ethikrat), sowie Xavier Ros, Vorstand für Personal und Organisation bei der Audi AG, auseinander. Professorin Woopen machte in ihrem Eingangsstatement deutlich, dass sich Ethik und Wirtschaft für sie nicht ausschließen – die Wirtschaft vielmehr für ein ethisches Leben erforderlich sei. Sie zählte beispielsweise auf: „Sie führt zu Wohlstand, öffnet Arbeitsräume.“  Sie verstehe die Wirtschaft in einer „dienenden Rolle an etwas Gutem“. Allerdings seien paradigmatische Anpassungen unseres Denkens nötig; es brauche einen Fokus auf soziale Innovation, Suffizienzdenken und Maßstäblichkeit. Weihbischof Losinger betonte im Kontext der Inter- und Multinationalität von Unternehmen die Bedeutung der Menschenrechte – „ethische Maßstäbe, die dem Schutz von Menschenleben dienen“. Ros konnte aus der Praxis für die Audi AG als multinationales Unternehmen sprechen. Er thematisierte unter anderem universelle ethische Werte des Unternehmens – und den Transfer dieser beispielsweise in Werke in China. „Nur wenn wir uns zurückziehen, herrscht nicht plötzlich Demokratie in China.“ Deswegen sei genau der umgekehrte Weg für ihn der richtige. „Wir müssen in Dialog treten.“ Professorin Woopen unterstrich, auch ihrer Meinung nach helfe der Dialog dabei, Menschen zu erreichen. Sie sei „weit davon entfernt zu denken, dass sich Dilemmas“, die die Frage moralischer Verantwortung solcher großer Unternehmen betreffen, immer eindeutig lösen ließen.

Impressionen aus den Podiumsdiskussionen
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