Ein digitaler Schatz: Mittelalterliche Bücher treffen auf innovative Technik

Ein Hahn findet im Mist einen Edelstein, würde aber ein Haferkorn bevorzugen. Nach dieser Eingangsgeschichte nennt der Berner Dominikanermönch Boner um 1350 seine Fabelsammlung „Der Edelstein“ und wünscht sich damit Leser, die eher auf geistige Werte denn sinnliche Genüsse aus sind. Bald 700 Jahre später ist dieses Werk nun Gegenstand eines innovativen digitalen Projekts. Die KU arbeitet, gefördert von der DFG, gemeinsam mit der Universitätsbibliothek Heidelberg an einer digitalen Neuedition dieser ersten als geschlossenes Werk konzipierten deutschen Fabelsammlung.

Die Fabeln des antiken griechischen Autors Äsop waren im Mittelalter ein echter Publikumsrenner. „Der Erfolg eines Textes bemisst sich daran, wie viele Überlieferungen davon vorhanden sind“, erklärt Dr. Christina Patz von der Forschungsstelle für geistliche Literatur des Mittelalters, die das Projekt an der KU koordiniert. Für Boners Werk seien das beeindruckende 38 Textzeugen, neben Handschriften auch zwei Drucke aus der Gutenberg-Ära. Der Bamberger Albrecht Pfister ging 1461 ein finanzielles Risiko ein, als er mit dem „Edelstein“ nicht nur das erste gedruckte deutsche Buch, sondern das überhaupt erste mit Holzschnitten illustrierte aufgelegte. Sein Mut wurde offenbar belohnt, denn nur ein Jahr später publizierte er eine zweite Auflage – ein starkes Indiz für die Beliebtheit der Sammlung.

Die Moral mancher Fabeln wirke heute befremdlich, erlaube aber faszinierende Einblicke in die Geisteshaltung der Menschen im Mittelalter, sagt die Germanistin Christina Patz: „Gerade in Fabeln spiegeln sich gesellschaftliche Werte in verblüffender Klarheit. Man kann Menschen nicht besser in den Kopf und ins Herz schauen, als wenn man liest, was sie lasen.“ Derartige literarische Zeugnisse für die Nachwelt zu bewahren und zugänglich zu machen, sieht sie als wichtige Aufgabe der Älteren deutschen Literaturwissenschaft. „Diese Texte sind Teil unserer Geschichte  und damit unserer Identität.“

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Die Eingangsfabel von „Hahn und Edelstein“ in der „Edelstein“-Handschrift Wolfenbüttel

Laut seines Epilogs umfasste der „Edelstein“ ursprünglich hundert Fabeln, die jedoch nur ein 1870 in Straßburg verbrannter Codex komplett beinhaltete. Vor dem Buchdruck war es üblich, Bücher abzuschreiben, wobei jeder Schreiber bzw. Auftraggeber nach eigenen Vorstellungen selektierte. So sind einzelne Texte nur viermal, andere dagegen 30-mal überliefert. „Wenn wir uns die Gesamtüberlieferung ansehen, können wir die hundert Fabeln finden und sie, einfach gesprochen, zu einer Ausgabe zusammenpuzzeln“, sagt Patz. Der letzte, der sich daran wagte, war 1844 Franz Pfeiffer. Ihm waren jedoch nur 17 Textzeugen bekannt, etwa 45 Prozent der heutigen Überlieferung. Auch war Pfeiffers Vorgehensweise eine andere als heute: „Durch den Vergleich von Textzeugen meinte er, den Urtext rekonstruieren zu können, den er nur in vier der Überlieferungsträger bezeugt sah.“ Zudem sonderte er diverse Verse als angebliches „Flickwerk“ aus. 

Christina Patz
Christina Patz

So schuf er sich die eher eigene Realität eines „geschliffenen Edelsteins“ – jedoch mit einem großen Manko, wie Christina Patz erläutert: „Heute ist es nicht mehr State of the Art, editorisch einen hypothetischen Urtext anzuzielen, der so in keiner erhaltenen Form bezeugt ist.“ Stattdessen stütze man sich nach dem Leithandschriftenprinzip auf Textzeugen, die nach den Kriterien der zeitlichen und sprachlichen Nähe zum Autor den besten und vollständigsten Text bieten. Pfeiffers editorische „Kunstform“ war mangels Alternativen dennoch mehr als 180 Jahre lang Grundlage für die Befassung mit Boners Werk. 

„Die entstehende neue Ausgabe wird einen weniger glänzend polierten, aber historisch echteren Edelstein präsentieren“, sagt Prof. Dr. Gerd Dicke. Der seit 2022 im Ruhestand wirkende ehemalige Ordinarius der Älteren Deutschen Literaturwissenschaft an der KU ist Leiter des DFG-Projekts. Die komplexe Aufgabe der Recherche der editorisch maßgeblichen Textzeugen hat er selbst übernommen. Gezielt hat er zudem auch jüngere, im Bestand reduzierte und verssprachlich vereinfachte Redaktionen, die das Gros der Überlieferung ausmachen, ermittelt. Eine weitere Vorarbeit war die Digitalisierung der Handschriften und Drucke in der Virtuellen Bibliothek der UB Heidelberg, die mit ihrer Plattform „heiEDITIONs“ in der Entwicklung einer Infrastruktur für Digitaleditionen im deutschen Sprachraum Maßstäbe setzt.

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Darstellung des antiken Fabelautors Äsop in der lateinisch-deutschen „Edelstein“-Handschrift München um 1450.

In den vergangenen Monaten hat das Projektteam nun die insgesamt neun editorisch relevanten Textzeugen mittels der KI-basierten Texterkennungs-Software „eScriptorium“ transkribiert. Anschließend wurden sie zur virtuellen Visualisierung durch eigens entwickelte Verarbeitungsprogramme der UB Heidelberg in ein Format konvertiert, das den in der Literaturwissenschaft international gültigen Standards der „Text Encoding Initiative“ (TEI) folgt. Auf diese Weise sind die Textzeugen nicht nur in getreuester Überlieferungsform digital nutzbar, sondern können auch synoptisch, also versgenau nebeneinandergestellt werden. „Damit lässt sich nachvollziehen, was sich im Laufe der Textgeschichte inhaltlich und sprachlich veränderte“, erklärt Christina Patz. Auch die Digitalfaksimiles lassen sich synoptisch zuschalten: „Das ist ein erheblicher Mehrwert der digitalen Präsentationsform, die es ermöglicht, die Spannweite aller Erscheinungsformen des Edelstein überblicken zu lassen“, betont Gerd Dicke. In die Synopse einzubeziehen ist zudem der anhand von drei Leithandschriften edierte Sammlungstext, in dem die Sprache behutsam vereinheitlicht und kleine Fehler verbessert wurden. Orthographische und dialektale Varianten – etwa lewe, löuwe oder lœwe – wurden „normalisiert“ – löwe –, wodurch der Sammlungstext durchsuchbar wird und mit mittelhochdeutschen Wörterbüchern verlinkt werden kann. 

Anfang 2027 wird die erste Phase des DFG-Projekts abgeschlossen und der „Edelstein“ in allen Überlieferungen digital zugänglich sowie in den textgeschichtlich zentralen Varianten vergleich- und durchsuchbar sein. In einer anvisierten zweiten Förderphase sollen die Quellen der „Edelstein“-Texte – lateinische Schulhandschriften und dominikanische Predigthandbücher – erschlossen und kommentiert werden. Zudem ist geplant, die mit etwa 1350 Illustrationen reiche Bildüberlieferung systematisch aufzuarbeiten.