Erinnerung lebendig halten: Was zivilgesellschaftliche Initiativen leisten können

Am 27. Januar 2025 jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau zum 80. Mal. Mit dem Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust soll die Erinnerung an den Schrecken des Holocaust und seine viele Millionen Opfer wachgehalten werden. Doch Zeit-zeugen, die durch ihre Lebensgeschichten eindrucksvoll mahnen, werden immer weniger. Gleichzeitig nehmen Antisemitismus und Rassismus in Deutschland zu. Wie kann Erinnerungskultur künftig funktionieren?

Das Verbundprojekt „EZRA – Rassismus und Antisemitismus erinnern“ der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU) und der Freien Universität Berlin nimmt dafür zivilgesellschaftliche Initiativen in den Fokus. Prof. Dr. Karin Scherschel, Inhaberin des Lehrstuhls für Flucht- und Migrationsforschung an der KU, untersucht die lokalen Erinnerungsinitiativen mit ihrem Team u.a. anhand von Gruppendiskussionen. Im Gespräch ziehen sie und ihre Mitarbeiterinnen Dr. Angelika Laumer und Elisabeth Lang ein erstes Zwischenfazit zu Relevanz, Gestalt und Herausforderungen der Erinnerungsarbeit im Lokalen.

Prof. Dr. Karin Scherschel
Prof. Dr. Karin Scherschel

Der Holocaust-Gedenktag ist ein Beispiel für staatlich-institutionelle Erinnerungspolitik. Auch die Schule ist eine tragende Säule der öffentlichen Erinnerungskultur. Wo sehen Sie die Rolle zivilgesellschaftlicher Initiativen?

Scherschel: Zivilgesellschaftliche Initiativen sind zentrale Impulsgeber für unsere heutige Erinnerungskultur. Gedenktage und vieles, was heute – zumindest in Teilen – selbstverständlich in der Erinnerungspolitik ist, sind hart erkämpft. Bis heute spielen zivilgesellschaftliche Initiativen eine bedeutende Rolle in der Auseinandersetzung mit Geschichte, insbesondere mit dem Nationalsozialismus. Sie setzen Themen auf die Agenda, sie bringen im lokalen Kontext verborgene Geschichten ans Licht, die von der Politik dann aufgegriffen werden. Der Institutionalisierung der Erinnerungspolitik gingen oft zivilgesellschaftliche Kämpfe voraus.

Ein Beispiel für zivilgesellschaftliche Erinnerungsarbeit sind die Stolpersteine, die es in vielen Orten gibt. Wie gestaltet sich lokale Erinnerungsarbeit darüber hinaus?

Laumer: Die Initiativen drehen sich oft um authentische Gedenkorte, beispielsweise Orte, wo Menschen bei Todesmärschen erschossen wurden.  Es gibt aber auch vom originalen Ort unabhängig gestaltete Denkmäler und Straßenumbenennungen, die von Initiativen erkämpft und gepflegt werden. Oftmals bieten die Initiativen begleitende Bildungsarbeit, zum Beispiel in Form von Stadtrundgängen, an.

Scherschel: Man kann unterscheiden zwischen lokalen Initiativen, die aufgrund konkreter lokaler Ereignisse entstehen, und solchen, die entstehen, weil Erinnerungspolitik an sich ein Thema ist und dann in den eigenen Gemeinden nach Orten und Ereignissen gesucht wird, die erinnerungswürdig sind und die es aufzugreifen lohnt. Die zweite Variante zeigt sich stärker im Feld der postkolonialen Debatte. Und es gibt einen dritten Weg, der in unserer multimedialen Gesellschaft wichtig ist: Erinnerungspolitik findet ihren Weg ins Netz und geht viral. Nehmen wir die Kampagne #SayTheirNames, die der neun Personen gedenkt, die aus rassistischen Motiven im Februar 2020 in Hanau getötet wurden. Hier führte eine lokale Tat bundesweit zu Aktionen.

Dr. Angelika Laumer
Dr. Angelika Laumer

Ihre Studie unterscheidet Initiativen in drei Aktivitätsfeldern: Nationalsozialismus, Kolonialismus und postnationalsozialistische Gewalt. Wie stark sind diese Felder in Deutschland vertreten?

Scherschel: In den letzten Jahrzehnten hat sich das Feld der Erinnerungsarbeit verändert. Das öffentliche Bewusstsein ist sehr stark durch die Erinnerung an den Nationalsozialismus geprägt. Aber seit den 2000er Jahren, spätestens mit der Enttarnung des NSU, haben Initiativen, die an rassistische Gewalt nach 1945 erinnern, begonnen, sich zu organisieren. In den sogenannten „Baseballschlägerjahre“ in den 1990ern in Ostdeutschland gab es ein hohes Maß an rechter Gewalt, eine Vielzahl von Opfern – gleichzeitig ist das zum großen Teil nicht im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert. Wir stoßen in unserem Projekt auf Verbrechen, von denen wir nie gehört hatten, obwohl wir uns seit langem mit der Thematik befassen. Das ist sicher der öffentlichen Aufmerksamkeitsökonomie geschuldet, wo die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus eben eine starke Bedeutung hat – und das ja zu Recht. Ebenso zu Recht werden aber mittlerweile auch andere Ereignisse in Erinnerung gebracht.

Laumer: Gruppen, die an Kolonialverbrechen erinnern, finden sich oft in Unistädten und entstehen aus Studierenden. Oder aber sie bestehen aus älteren Personen und knüpfen an die lange Tradition der Solidarität mit Lateinamerika an. Gängiges Beispiel im Bereich Kolonialismus ist Aufklärungsarbeit rund um Personen und ihnen gestiftete Denkmäler, die an Kolonialverbrechen beteiligt waren. Oder die Umbenennung von Straßen, mit denen Kolonialherren gewürdigt wurden.

Lang: Wir haben keine Vollerhebung aller zivilgesellschaftlichen Initiativen gemacht. Das wäre auch gar nicht möglich, so etwas wie eine zentrale Datenbank gibt es nicht. Klar ist, dass es in allen drei Feldern sehr viele und sehr vielfältige Initiativen gibt – weil Erinnerung einerseits eine lange Tradition hat und es andererseits immer wieder Gewalttaten gibt, die zu einem neuen Erinnerungspunkt werden. Aufgrund unserer systematischen Recherche können wir zumindest sagen, dass Initiativen, die der kolonialen Vergangenheit erinnern, sich tendenziell eher im urbanen Raum und in den alten Bundesländern finden.

Wie unterscheidet sich die Arbeit der Initiativen in den drei Feldern?

Scherschel: Wir finden in allen drei Feldern ähnliche Aktionsformen wie Stadtrundgänge oder Gedenkfeiern. Auch hinsichtlich der Akzeptanz vor Ort ist es schwer, zwischen den Feldern systematisch zu unterscheiden. Klar treffen Initiativen im Feld Nationalsozialismus oft auf große Akzeptanz – aber auch auf das komplette Gegenteil. Es gibt Gemeinden, da ist das Setzen von Stolpersteinen hoch konfliktiv. Nur weil die Erinnerungspolitik im Feld Nationalsozialismus staatlich offiziell anerkannt ist, ist sie nicht automatisch auf lokaler Ebene anerkannt.

Elisabeth Lang
Elisabeth Lang

Stoßen Sie auch auf unterschiedliche Auffassungen, wie Erinnerungsarbeit funktionieren soll?

Scherschel: Quer zu allen Feldern treffen wir auf verschiedene Verständnisse, was Erinnerungsarbeit erreichen soll: Das reicht von der tatsächlichen Erinnerung an konkrete Personen bis zu einem allgemeinen Streben nach gerechten Gesellschaftsverhältnissen. Immer wird thematisiert, dass Unrecht stattgefunden hat, aber die daraus abgeleiteten Ansprüche der Initiativen und ihr Umgang mit der Politik unterscheiden sich. Einige legen Wert darauf, dass man lokal Zusammenhalt stiftet, sich gemeinsam erinnert und friedvoll koexistiert. Andere zielen stark auf die Herstellung von Gerechtigkeit, nehmen die Konfrontation in Kauf. Nehmen wir das Feld der postnationalsozialistischen Gewalt mit dem Beispiel des NSU: Die Taten wurden lange nicht aufgedeckt, es gab zahlreiche Versäumnisse der Polizei und des Verfassungsschutzes – ein systematisches Versagen. Erinnerungsarbeit in diesem Kontext funktioniert natürlich anders.

Lang: Was allen Initiativen gemein ist, ist die Relevanz von Erinnerung. Alle sagen, es ist wichtig, Wissen darüber zu schaffen und weiterzugeben, was geschehen ist. Alle verstehen Erinnerung als etwas dynamisches, im Sinne: Wenn man nicht erinnert, fällt das Geschehene dem Vergessen anheim. Und dagegen engagieren sie sich, häufig in Form von Bildungsarbeit.

Bundesweit ist ein Anstieg rechter, rassistischer und antisemitisch motivierter Gewalt zu verzeichnen. Auch der öffentliche Diskurs wird schärfer. Wie verändert das die Arbeit der Initiativen?

Scherschel: Wir stoßen auf Anhaltspunkte für Umbrüche, besonders im Gespräch mit Initiativen in ostdeutschen Bundesländern. Es ist bekannt, dass die AfD kein Interesse an Erinnerungspolitik hat. Wenn der Bürgermeister durch die AfD gestellt wird, hat das vor Ort konkrete Folgen – bestimmte Veranstaltungen sind nicht mehr möglich, Finanzierung entfällt. Ein weiterer Aspekt: Die Auseinandersetzung mit Gewalttaten sagt nicht nur etwas aus über Rechtsaußen, sondern über die Mitte der Gesellschaft. Denken Sie an den NSU: Es wurde lange kolportiert, die Mordopfer würden in einem Zusammenhang mit Bandenkriminalität stehen, was nie der Fall war. Das zeigt, dass rassistische Ideologien bis tief in die Institutionen unserer Gesellschaft dringen und dort zum Tragen kommen. Zivilgesellschaftliche Erinnerungskultur ist die Reaktion auf diese rassistischen Gewaltverhältnisse.

Auf welches Echo stoßen die zivilgesellschaftlichen Initiativen aktuell?

Scherschel: Beim Interesse an Erinnerungspolitik muss man zwischen den öffentlichen Debatten und dem lokalen Kontext unterscheiden.  Im Feuilleton tauchen Erinnerungspolitiken immer wieder mal prominent auf – aber unsere Erfahrung ist, dass das nichts darüber aussagt, wie die zivilgesellschaftlichen Initiativen auf lokaler Ebene agieren. Mit Blick auf den Holocaustgedenktag: So selbstverständlich das institutionalisierte Gedenken ist, ist es zugleich nicht so, dass das Gedenken an den Nationalsozialismus auf der lokalen Ebene überall anerkannt ist – es ist nach wie vor ein umstrittenes Thema und wird noch umstrittener werden, je stärker Rechtsaußenparteien an Möglichkeiten gewinnen.

ZUM PROJEKT

„EZRA – Rassismus und Antisemitismus erinnern“ ist ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes Verbundprojekt der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU) und der Freien Universität Berlin (FU) und läuft bis Ende 2026. Teilprojekt 1, geleitet von Prof. Dr. Karin Scherschel (KU), ist eine empirische Studie zur lokalen Erinnerungsarbeit zivilgesellschaftlicher Initiativen in den Aktivitätsfeldern Nationalsozialismus, Kolonialismus und postnationalsozialistische Gewalt. Teilprojekt 2, geleitet von Prof. Dr. Sabine Achour (FU Berlin), befasst sich mit digitalen Bildungsformaten für die Erinnerungsarbeit zu Nationalsozialismus, Kolonialismus und postnationalsozialistische Gewalt. Ziel des Projekts ist die Entwicklung einer Online-Plattform mit digitalen Lernmaterialien zum Themengebiet Erinnerung, Zivilgesellschaft, Rassismus, Antisemitismus (EZRA).