Lange Kontinuität aus NS-Zeit: Karrieren im Bundesministerium für Landwirtschaft nach 1945

Präsentation Historikerkommission
© BMEL/Photothek/Zahn

Für die frühe Nachkriegszeit in Deutschland ist häufig die Rede von einer „Stunde Null“, die auch eine flächendeckende Abkehr von Personen mit NS-Vergangenheit impliziert. Das genaue Gegenteil in der Einstellungspraxis von Bundesbehörden ab 1949 bestätigt eine neue Studie, für die Prof. Dr. Friedrich Kießling, Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der KU, die Historie des heutigen Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft untersucht hat. Als Mitglied einer vom Ministerium eingesetzten unabhängigen Historikerkommission hat sich Kießling auf die Zeit seit 1949 und die zwei folgenden Jahrzehnte konzentriert. Nach vierjähriger Arbeit haben die beteiligten Historikerinnen und Historiker nun ihren Abschlussbericht vorgelegt, der die Geschichte der Behörde seit dem Ersten Weltkrieg darstellt. Erschienen ist der über 800 Seiten umfassende Band „Agrarpolitik im 20. Jahrhundert. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft und seine Vorgänger“ im Verlag De Gruyter.

„Die Personalpolitik des Landwirtschaftsministeriums in der Nachkriegszeit spiegelt ein vergangenheitspolitisches Interesse der Adenauerzeit wider: Der Nationalsozialismus wurde nicht verschwiegen, die Belastung jedoch auf wenige Hauptbelastete beschränkt und ansonsten eine Politik der Integration der vielen vermeintlichen ,Mitläufer‘ und weniger Belasteten betrieben. Maßgeblich war die fachliche Expertise“, schildert Professor Kießling. Dabei habe sich die Behörde nicht grundsätzlich von anderen unterschieden, wie Untersuchungen für andere Ministerien zeigten: Im Justizministerium hätten Justizminister Thomas Dehler, der mit einer Jüdin verheiratet war und es im Nationalsozialismus blieb, sowie Staatssekretär Walter Strauß, der selbst jüdischer Herkunft war, nach 1949 einen Stab leitender Mitarbeiter ausgewählt, der zum Teil erhebliche formale und materielle Belastung aufgewiesen habe. Das Auswärtige Amt wiederum habe bald nach seiner Wiedereinrichtung beinahe zwei Drittel seines Führungspersonals aus dem alten Außenministerium rekrutiert.

Insofern sind die grundlegenden Befunde aus den Personalakten des Landwirtschaftsministeriums, die Kießling für seine Untersuchung sichtete, keine Überraschung. „Das Ausmaß ist allerdings auch im Vergleich durchaus bemerkenswert: Bereits Ende 1950 war die Quote der ehemaligen Parteimitglieder unter den Mitarbeitern von den Referatsleitern aufwärts sprunghaft auf 61 Prozent gestiegen. 1953 erreichte die Quote die Schwelle von 70 Prozent. Die Höchstzahl ist 1959 mit 80%, also vier Fünftel der erfassten Mitarbeiter, erreicht und erst danach allmählich abgesunken“, so Kießling. 1961 seien immer noch 72% der leitenden Mitarbeiter frühere Mitglieder der NSDAP gewesen. „Im Vergleich der Ministerien erreicht das Ernährungsressort damit den höchsten bislang erfassten Wert.“

Auffällig sei der blinde Fleck in den Belastungsbegriffen der frühen Bundesrepublik, der sich im Agrarressort vor allem auf die Rolle der Mitarbeiter während der deutschen Besatzungsherrschaft bezog. Kießling dazu: „So zynisch es klingen mag: Die Beamten des Landwirtschaftsministeriums erwarben in der Besatzungsverwaltung in Osteuropa Kompetenzen, die sie später zu nutzen wussten. Das gelang auch deswegen, weil Vorgesetzte sowie Personalverantwortliche auf Mitarbeitersuche umstandslos Besatzungserfahrungen in den normalen beruflichen Werdegang einordneten. Unter welchen Umständen die Expertise erworben wurde, war bei Einstellungen nicht relevant.“ Dabei hätten Agrarbeamte sich selbst unter den Bedingungen der Endphase des Zweiten Weltkriegs aktiv am deutschen Raubkrieg in Osteuropa beteiligt, indem sie etwa akribisch Mengen- und Strukturdaten der vorhandenen Nahrungsmittel erhoben und entsprechende Ernährungspläne berechneten. Die dabei erworbenen administrativen Kenntnisse seien nach dem Krieg umstandslos der eigenen Laufbahn zugutegekommen. Falschangaben in Lebensläufen seien ohne Konsequenzen geblieben, Nachfragen von außen zu Biographien während der NS-Zeit seien aus dem Weg geräumt und nicht weiter berücksichtigt worden.

Darin fußt auch das Selbstverständnis der Personalpolitik des Ministeriums: Verbreitet sei die Vorstellung des „Fachmanns“ gewesen, der seinen professionellen Standards sogar im Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg gefolgt sei und sich dadurch vom Tun der NSDAP oder der SS unterschieden habe, selbst wenn er beiden Organisationen angehört hätte. „Als gesichert kann gelten, dass das Selbstbild einer über die politischen Brüche hinweg bewährten und vor allem effektiven Beamtenschaft bei den Neueinstellungen der 1950er Jahre auch im Landwirtschaftsministerium zur Selbstreproduktion der alten Funktionseliten führte“, erklärt Kießling. So erklärt sich auch, dass gerade in Führungspositionen noch über Jahrzehnte hinweg Personen präsent waren, die im Nationalsozialismus sozialisiert wurden. Erst ab 1988 seien die letzten vier Beamten auf der Ebene der Abteilungs- und Unterabteilungsleiter in den Ruhestand gegangen, die Mitglieder der NSDAP bzw. der SS gewesen waren.

„Für das Ministerium ergibt sich daraus, dass NS-Vergangenheiten offenbar auch nach der Ära Adenauer keine oder kaum eine Rolle spielten. Auch in Zeiten, in denen die Sensibilität für NS-Belastungen in der öffentlichen Debatte wuchs, gab es keine erkennbaren Auswirkungen auf die Personalentscheidungen“, resümiert Professor Kießling.

Explizite Anleihen an die NS-Ideologie seien aber dennoch im Zusammenhang mit der staatlichen Agrarpolitik und auch bei den Mitarbeitern des Landwirtschaftsministeriums der frühen Bundesrepublik die Ausnahme gewesen. Eher seien es allgemeinere agrarpolitische Grundkonzepte, die eine ideengeschichtliche Brücke über 1945 geschlagen hätten. Dazu gehört die Konzeption der Landwirtschaftspolitik als genuin nationale Aufgabe, sowie die Vorstellung, dass die knappe zur Verfügung stehende Fläche ein Hauptproblem der bundesdeutschen Landwirtschaft sei. Zudem war die Landwirtschaft ein Thema in den ideologischen Auseinandersetzungen zwischen West und Ost. Die bundesdeutsche Seite richtete sich dabei vor allem gegen die Kollektivierungen in der DDR und stellte diesen den eigenständigen, „freien“ bäuerlichen Familienbetriebe entgegen.

Professor Kießling beschäftigt sich aktuell weiterhin mit Fragen personeller Kontinuität nach 1945 für eine weitere Institution des Bundes: Gemeinsam mit dem Juristen Prof. Dr. Christoph Safferling (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) untersucht er derzeit, wie die Bundesanwaltschaft mit Belastungen aus der Zeit des Nationalsozialismus umgegangen ist.

 

Horst Möller / Joachim Bitterlich / Gustavo Corni / Friedrich Kießling / Daniela Münkel / Ulrich Schlie (Hrsg.): Agrarpolitik im 20. Jahrhundert. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft und seine Vorgänger. Berlin 2020 (De Gruyter Oldenbourg), 39.95 Euro (ISBN 978-3-11-065116-4).