Soziologie: Aktuelles und Veranstaltungshinweise

Christian Jakob in der Vortragsreihe „Grenzen der Demokratie“

Am 05. Dezember hatte die aktuelle Gesprächsreihe des ZFM „Grenzen der Demokratie“ den Journalisten und Autor Christian Jakob zu Gast. In seinem Vortrag „Hart an der Grenze – Endspurt für ein neues europäisches Asylsystem?“ gab er einen umfassenden Einblick in Genese und Konfliktlinien der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems – kurz GEAS. Der Entwurf, an dem die Europäische Union seit mehr als zehn Jahren arbeitet, bestehe aus mehreren Richtlinien und Verordnungen und solle letztlich, so Jakob, die EU für Flüchtende unattraktiver machen. Bisher waren die Unterschiede in den Positionen der Mitgliedstaaten zu groß, um den Reformpakt einvernehmlich auf den Weg zu bringen. So forderten südliche EU-Länder wie Italien und Griechenland eine Umverteilung der Geflüchteten auch auf andere EU-Staaten, wohingegen EU-Staaten des Ostens, etwa Ungarn, keinerlei Bereitschaft zeigten, Geflüchtete aufzunehmen. Von einem angepassten Verteilungs- und Aufnahmesystem wäre demnach auch die bisherige Dublin-Verordnung von den neuen GEAS-Gesetzentwürfen betroffen.
Eine zentrale Strategie des neuen GEAS ist es, Zentren an den Außengrenzen der EU zu schaffen, in denen Asylanträge im Schnellverfahren geprüft würden. Damit sollen insbesondere Personen mit sog. geringer Bleibeperspektive und aus vermeintlich sicheren Drittstaaten leichter abgeschoben werden. Die wenigen Anerkannten aus diesen Schnellverfahren könnten gemäß eines freiwilligen Solidaritätsmechanismus von den einzelnen EU-Ländern aufgenommen oder Ausgleichszahlungen vorgenommen werden – so die Überlegung. Ein verpflichtender Verteilungsmechanismus auf alle Mitgliedstaaten sei nicht vorgesehen. Weitere Externalisierungsbestrebungen, wie die Auslagerung der Prüfung von Asylverfahren, lassen sich außerdem zunehmend in bilateralen Verhandlungen beobachten, wie beispielsweise zwischen Italien und Albanien sowie Großbritannien und Ruanda.

Durch die politische Konstruktion einer Fiktion der Nichteinreise kann auch der Zugang zum europäischen Rechtssystem ausbleiben, indem so getan wird, als seien die Geflüchteten, die sich längst in der EU befinden, noch gar nicht in der EU. Zudem gebe es Überlegungen, so Jakob, die Überstellungsfrist für sog. Dublinfälle (Personen für deren Asylantrag ein anderer Mitgliedstaat zuständig ist) von bisher sechs auf 18 Monate zu erhöhen. Eine Maßnahme, die auch schwerwiegende Folgen für die Praxis des Kirchenasyls hätte. Viele Kirchengemeinden könnten die Ressourcen zur Aufnahme und Betreuung von Geflüchteten über einen so langen Zeitraum kaum aufrechterhalten, weshalb mit einem größeren Rückgang der Kirchenasylplätze zu rechnen sei.
Verschärfen würde sich die Menschenrechtslage insbesondere durch die im GEAS angelegten Krisenverordnungen: Diese machen es nach Einschätzung von Jakob möglich, dass Staaten in bestimmten Fällen, zum Beispiel bei „höherer Gewalt“, Krieg oder Naturkatastrophen, abgesenkte Standards – etwa bei der Antragsprüfung, Unterbringung und Versorgung von Schutzsuchenden –  anwenden dürfen.
Legitimiert werden die geplanten Neuerungen, die einen deutlichen Eingriff in bestehendes Asylrecht bedeuten würden, unter anderem mit dem Ziel, die Zahl der Geflüchteten in der EU zu senken und gleichzeitig weitere Gewinne rechter Parteien bei den Wahlen 2024 zu verhindern. Der politische Druck sei groß, die Folgen für die Menschenrechtssituation an den europäischen Außengrenzen dürften es ebenfalls sein.

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