20 Jahre Lehrstuhl Tourismus

20 Jahre
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„Reisen und touristische Verhaltensweisen sind ein Spiegelbild von Gesellschaft, und wenn Gesellschaft teils fundamentalen Transformationsprozessen unterliegt, ist das folgerichtig auch mit dem Reisen so“, sagt Prof. Dr. Harald Pechlaner, dessen Lehrstuhl sein 20-jähriges Bestehen mit einem Symposium am 21. und 22. September feiert. Dabei stehen grundlegende Entwicklungen des Tourismus im Mittelpunkt, die Pechlaner mit seinem Team seit nunmehr zwei Jahrzehnten begleitet und eigene Impulse setzt. Ein Gespräch zur Frage, wohin die Reise mit dem Tourismus geht.

Herr Professor Pechlaner, Sie selbst waren einst Leiter der Abteilung „Fremdenverkehr“ der Landesregierung von Südtirol. Diese Begrifflichkeit ist mittlerweile kaum noch zu finden. Welche Entwicklung drückt sich darin aus, dass heute von Tourismus die Rede ist?
Zum einen ist das Wort Tourismus schlicht international anschlussfähiger. Zum anderen sind Gastfreundschaft und Gastlichkeit die Grundlage dafür, dass sich Fremdheit, die sich im Wort „Fremdenverkehr“ findet, in Vertrautheit wandeln kann. Ich denke, diese Orientierung im Hinblick auf Vertrautheit hat zugenommen, so dass auch deshalb das Wort „Fremdenverkehr“ in den Hintergrund gerückt ist. Interessant finde ich, dass im Griechischen und Lateinischen für den „Gast“ und den „Fremden“ dasselbe Wort verwendet wird.

Was war Ihr eigener Antrieb, um von der Praxis in die Wissenschaft zu wechseln?
Ich hatte schon bei meiner Promotion Geschmack auf eine Karriere in der Wissenschaft bekommen. Tourismus ist eine angewandte Wissenschaft. Ich hatte ein hohes wissenschaftliches Interesse und lernte in meiner damaligen Funktion die Praxis kennen. Dabei merke ich, dass das Eine nicht ohne das Andere geht.

Die Wurzeln Ihres Lehrstuhls liegen in einer Stiftungsprofessur, die von vielen Förderern aus der Region seit 2003 unterstützt wurde. Wie ist die Tourismuswissenschaft im deutschsprachigen Raum aufgestellt?
Tourismuswissenschaft hat international betrachtet eine sehr positive Entwicklung vollzogen. Speziell in Deutschland sind viele Angebote an Hochschulen entstanden, im universitären Bereich gehört mein Lehrstuhl jedoch tatsächlich zu den wenigen, die eine explizite Denomination für Tourismus haben. Dadurch sind wir in einer interessanten Situation, indem wir bundesweit zentraler Anlaufpunkt für den wissenschaftlichen Nachwuchs in unserem Bereich geworden sind. Der ursprüngliche Gründungsimpuls für die Stiftungsprofessur lag darin, aus der Region für die Region zu arbeiten. Mittlerweile sind wir als Lehrstuhl sowohl national als auch international sehr gut vernetzt. Die Idee des Transfers in die Region behalten wir gleichwohl bei.

Blättert man zurück, formulieren Sie seit jeher als Ziel, Städte und Regionen miteinander zu vernetzen, Kräfte zu bündeln. Wie ausgeprägt ist noch das Denken in Landkreisgrenzen im Hinblick auf den Tourismus – sowohl in der Region als auch in anderen Destinationen, in denen Sie forschen und beraten?
Bundesweit betrachtet ist da immer noch Luft nach oben. Das touristische Landkreisdenken ist nach wie vor ausgeprägt. Der Naturpark Altmühltal mit sieben beteiligten Landkreisen ist das eine löbliche Ausnahme. Viele solcher Beispiele haben wir nicht. Dies hängt aber generell auch davon ab, welchen Stellenwert Tourismus in einer Region wirtschaftlich spielt. Blickt man auf Bayern, so finden Sie hier eine gute Mischung aus Industrie und Tourismus, während etwa Südtirol deutlich abhängiger von Reisenden ist.

Wie unterscheidet sich Tourismus generell von anderen Branchen? Durch die emotionale Aufladung von Urlaub und Erholung?
Richtig, die emotionale Komponente ist ein Aspekt. Jedoch hat Tourismus vor allem eine Querschnittsfunktion, die in viele andere Bereiche hineinwirkt. Das macht ihn zugleich komplex und untypisch. Vor meinen persönlichen Hintergrund im alpinen Tourismus habe ich etwa auch den Städte- und Geschäftstourismus neu kennengelernt, der mich immer fasziniert hat. Deutschland gehört hier international zur Spitze als Ziel und Anlass. Tourismus ist grundlegend keine trennscharf abgrenzbare Branche. Noch vor 20 Jahren wurde Tourismus aus der Perspektive von Wirtschaft und Geographie diskutiert, nun treten gesellschaftswissenschaftliche und gesellschaftspolitische Fragen in den Vordergrund – etwa im Hinblick auf die Akzeptanz von Tourismus in der Bevölkerung von Destinationen. Heute verbindet man in der Betrachtung Alltagsräume mit Urlaubsräumen. Das ist heute absolut notwendig. Wer es heute versäumt, die Gesellschaft gewissermaßen mit auf die Reise zu nehmen, wird Tourismus in einer Region nicht etablieren können.

Nach Ende der Pandemie stellte sich die Frage, ob die Menschen wieder zum Reiseverhalten aus der Zeit vor Corona zurückkehren? Welche Entwicklung beobachten Sie?
Einerseits war der Wunsch aus Gewohnheit groß, wieder wie gewohnt zu reisen. Trotzdem hat es Veränderungen gegeben: Raum und Zeit haben mehr an Wert gewonnen. Und jenseits der Pandemie stellen sich neue Herausforderungen angesichts von Klimawandel, Krieg und demographischen Entwicklungen. Einerseits möchten die Menschen Ablenkung von den Krisen haben, andererseits ist der Wunsch größer geworden, bewusster zu reisen. Viele stellen sich nicht nur die Frage, nach der Art des Reisens, sondern auch, warum sie überhaupt reisen. Hier kommt das Thema Nachhaltigkeit ins Spiel. Ich zweifele derzeit daran, dass der Tourismus aus sich selbst heraus zur großen Transformationen beitragen kann, weil es ganz simpel darum geht, Menschen zu zerstreuen. Hier braucht es auch politische und gesellschaftliche Impulse. Tourismus ist nicht nur Wirtschafts-, sondern auch Sozialpolitik. Dieses Verständnis muss noch im Tourismus wachsen.

Woher rührt der Fachkräftemangel und wie kann die Branche dem begegnen? Und: Wohin sind die Fachkräfte abgewandert – sie müssen ja weiterhin ihr Geld verdienen?
Wir diskutieren dies sehr stark im Kompetenzzentrum Tourismus des Bundes, dessen wissenschaftlicher Leiter ich bin. Vor der Pandemie herrschten in der Branche Bedingungen, die nun nach der Pandemie generell in Frage gestellt werden. Um die Dienstleistung möglichst günstig zu erbringen, hat man auf möglichst günstige Arbeitskräfte geachtet. Man hat sich nie Gedanken über Arbeitszeitmodelle gemacht, die eine Fünf-Tage-Woche ermöglichen. Das setzt natürlich mehr Mitarbeiter und mehr Organisation voraus, was die Dienstleistung verteuert. Nun werden in der akuten Krise die Mitarbeitenden besonders hofiert, jedoch lediglich als Reaktion. Ich frage mich, wie glaubwürdig und zukunftsfähig diese Kehrtwende ist. Es gilt Antworten auf die Frage zu finden: Sag Du mir, warum ich im Tourismus arbeiten soll. Oder auch: Unter Welchen Bedingungen kann das Arbeiten im Tourismus wieder Spaß machen?

Welche Kompetenzen benötigen künftige Fach- und Führungskräfte und wie bereiten Sie diese mit dem Studienangebot der KU vor?
Es braucht ein Verständnis, das Tourismus nicht nur eine ökonomische Branche, sondern ein Gesellschaftsphänomen ist. Dafür sind auch fachübergreifend Kompetenzen aus Soziologie, Geographie oder Psychologie nötig. Das bündeln wir zum Beispiel in unserem neuen digitalen Masterstudiengang „Transformation und nachhaltige Lebensraumentwicklung – Tourismus neu gestalten“.

In jüngster Zeit plädieren Sie für ein „Ökosystem der Gastlichkeit“, das nicht nur das Wohlbefinden der zahlenden Gäste berücksichtigt, sondern auch die Bevölkerung der Destinationen. Was ist Hintergrund dafür und welche Schritte sind erforderlich?
Tourismus ist generell sehr gut organisiert durch diverse Verbände und Organisationen, um Erlebnisqualität der Gäste mit der Lebensqualität der Einheimischen zu verbinden. Sie können Impulse setzen in Wirtschaft und Politik, um ganzheitlicher zu denken. Es gilt, Aspekte der Resilienz zu identifizieren – nicht nur im Sinne einer Krisenfestigkeit, sondern auch der Zukunftsfähigkeit. Dabei ist der Tourismus nicht allein in der Verantwortung, kann jedoch die Funktion eines Netzwerkes übernehmen.

Sie sind unter anderem auch wissenschaftlicher Leiter des „Kompetenzzentrums Tourismus“ des Bundes. Welche Rolle spielt die Politik für den Tourismus?
Das Kompetenzzentrum hat die Aufgabe, im Austausch mit den Verantwortlichen vornehmlich aus den Verbänden Themen zu identifizieren, die für den Tourismus generell von Bedeutung sind – etwa den Arbeitskräftemangel oder Aspekte der Digitalisierung. In der Vergangenheit wurde Tourismuspolitik zu sehr als Wirtschaftspolitik verstanden. Wenn Tourismus richtig verstanden wird, hat er eine integrative Kraft über verschiedene Ressorts hinweg – von der Umweltpolitik über die Kulturpolitik bis hin zu Sozialpolitik. Insofern sollte Tourismuspolitik beim Kanzleramt angesiedelt sein.

Zum Jubiläum des Lehrstuhls veranstalten Sie ein zweitägiges Symposium. Was erwartet die Teilnehmerinnen und Teilnehmer?
Der erste Tag in Eichstätt versteht sich als Tourismus-ThinkTank, der zweite in Ingolstadt als Publikumstag zu Fragen der Regional- und Standortentwicklung, insgesamt geht es um die großen Fragen rund um Transformationen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik und die Konsequenzen für den Tourismus. Es gilt, Veränderungen anzustoßen und Routinen zu durchbrechen.

Werfen wir einen Blick in die Glaskugel: Wohin geht die Reise für den Tourismus der Zukunft?
Ich denke, die Digitalisierung ist auch im Tourismus eine treibende Kraft – sowohl für die Präsentation von Destinationen als auch für eigene Produkte. Virtualität vermischt sich mit der realen Welt. Schon heute kann man sich zum Beispiel virtuell und dreidimensional einen Vorgeschmack auf ein Reiseziel machen und dieses vorab erkunden, um erst danach zu buchen. Zeitlos bleiben die Ur-Motive: Gesellschaften brauchen Erholung, Abwechslung und kulturelle Bereicherung. Der Tourismus kann in dieser Zeit der gesellschaftlichen Transformation einen tollen Beitrag leisten, wenn es ihm gelingt, Einblick in zukunftsorientierte Lebensstile zu bieten.

Und abschließend gefragt: Welche Art von Urlaub bevorzugt der Tourismusexperte Harald Pechlaner für sich selbst?
Ich experimentiere viel. Auch wenn dies nicht meine bevorzugte Art des Reisens ist, habe ich einmal eine Kreuzfahrt unternommen, um aus eigenem Erleben berichten zu können. Mit Studierenden war ich wiederum auf dem Jakobsweg unterwegs. Traditionell verknüpfe ich gerne Berge und Meer.


Das Gespräch führte Constantin Schulte Strathaus.


Ausführliche Informationen zum Programm und die Anmeldung für die Tagung „Transformation ist eine Haltung! Zur Veränderung des Reisens: Perspektiven der Gestaltung von Orten und Räumen“ finden Sie hier.