Die Atmosphärenforschung hält Einzug in die Tourismuswissenschaften

Prof. Dr. Harald Pechlaner und Natalie Olbrich (Lehrstuhl Tourismus / Zentrum für Entrepreneurship) haben Mitte Mai das wissenschaftliche Kolloquium „Quo vadis Raumatmosphären-Forschung?“ in St. Gallen besucht. In Kooperation zwischen Universität St. Gallen und Curtin University haben Dieter Pfister und Michael Volgger in die Alte Militärkantine in St. Gallen geladen und einen Fachaustausch zwischen WissenschaftlerInnen organisiert.

Als Ausgangspunkt des wissenschaftlichen Kolloquiums „Quo vadis Raumatmosphären-Forschung?“ in St. Gallen galt der bei Emerald Group Publishing veröffentlichte Sammelband „Atmospheric turn in culture and tourism: place, design and process impacts on customer behaviour, marketing and branding“ von Volgger und Pfister (2019). Hier werden Ideen der nachhaltigen Entwicklung, der Produktentwicklung und des Branding mit Begriffen aus den Bereichen Design, Raumgestaltung und Architektur miteinander verbunden und Perspektiven für die strategische Entwicklung, Bewertung und Auswirkung von „atmosphärischer Qualität" in touristischen und gastgewerblichen Dienstleistungssituationen abgeleitet. Der Lehrstuhl Tourismus hat in seinem Beitrag „Does the Living Space Prevent Destination Development? The Bavarian Town of Eichstaett as a Space of Possibilities” eine Case Study der Stadt Eichstätt thematisiert und verdeutlicht, dass insbesondere Kleinstädte das Potenzial haben, durch eine stärkere Auseinandersetzung mit der atmosphärischen Gestaltung ihres Raumes eine touristische Sichtbarkeit zu erreichen und die Lebensqualität der Bevölkerung zu erhöhen.

Was wird als Atmosphäre gedacht? Welche Dimensionen gibt es? Wie kann sie methodisch erfasst werden? Welcher Bezug kann bspw. zum Tourismus hergestellt werden? Welche Themenfelder soll die Atmosphärenforschung in Zukunft noch stärker aufgreifen? Diese sowie weitere Fragestellungen haben das wissenschaftliche Kolloquium begleitet.

Zunächst wurde festgestellt, dass Atmosphäre als das „raumfüllende, diffuse etwas, das gleichzeitig verteilt und doch greifbar ist [verstanden wird] und durch Immersion über die Sinne körperlich erfahren werden kann“ (Volgger, im Druck). Dabei gibt es nicht eine Atmosphäre, sondern eine Vielfalt an Atmosphären (z.B. Orts-, Raum- oder Situationsatmosphäre) sind vorhanden. In der Architektur sowie im Tourismus stellen Emotionen einen zentralen Aspekt dar und Räume spiegeln die Atmosphäre einer Lebenswelt Destination wieder (Menschen, materielle Dinge, Geschichten und Emotionen), die von den Gästen mit allen Sinnen wahrgenommen werden. Objektive Gefühle können in der Folge entstehen, welche methodisch bislang schwer erfassbar sind. Der atmosphärische Blick als ein Einnehmen einer holistischen Perspektive kann ein Denkmuster für die touristische Produkt- und Destinationsentwicklung sein, indem verschiedene Elemente und Dimensionen miteinander verbunden werden.

Resonanz stellt die Verbindung und Berührung des Individuums mit der Welt und zu anderen Menschen dar. Eine tote Resonanzbeziehung kann laut Rosa (2016) als Folge wenig Weltbeziehung bedeuten. Atmosphäre entsteht aus den situativen und resonanten Wechselbeziehungen und entspricht der Stimmung/Stimme eines Raumes. Dabei kann die Identität des Raumes (sog. place identity) mit den Bereichen Institutionen (≙ Normen, Regeln und Glaubenssätze), Place (≙ geographischer und materieller Raum) sowie Space (≙ temporärer Raum, in dem Akteure zusammenkommen und agieren; Ort der multiplen Logiken) beschrieben werden.

Prof. Pechlaner und Fr. Olbrich haben in ihrem Vortrag „Auf Sinnsuche - zwischen touristischer Produktentwicklung und Atmospheric Design am Beispiel der sakralen Kulturlandschaft des Bistums Augsburg“ erste Ergebnisse des Forschungsvorhabens „Kirche, Spiritualität und Tourismus“ im Rahmen des Programms „Räume des Glaubens eröffnen“ präsentiert. Im Rahmen des Projektes konnte analysiert werden, dass „Räume des Glaubens eröffnen“ heißt, die physischen Räume der Kirche für die Besucher durch passende oder noch auszubauende Infrastruktur zugänglich zu machen. Zudem ist das Netz der Kirchengebäude, Klöster, Kapellen etc. weitaus dichter geknüpft als manch eine touristische Organisation. Nicht die bloße Schaffung kirchlicher Attraktionen oder Destinationen, sondern die nachhaltige, glaubwürdige Gestaltung ansprechender Orte und der Öffnung der Atmosphären, indem sie den physischen Zutritt, aber auch einen immateriellen, persönlichen Zugang zu kirchlichen Räumen erleichtern, rückt in das Zentrum der Aufmerksamkeit für Kirche und Tourismus.

Schlussendlich wird das Phänomen Atmosphäre als ein mögliches Denkmuster und Orientierung für eine Zeit nach der Corona-Krise gesehen. Der Umgang mit digitalen Komponenten oder dem Klimawandel stellen interessante Forschungsfelder für die Atmosphärenforschung dar.