Frau Scherschel, laut UNHCR sind seit Beginn des Krieges bis dato mehr als 3,5 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Das Bundesinnenministerium hat bislang rund 220.000 Einreisen von Geflüchteten aus der Ukraine dokumentiert. Die Zahlen steigen täglich. Wie unterscheidet sich die aktuelle Situation von der im Jahr 2015?
Ein entscheidender Unterschied ist der rechtliche Rahmen. Die Fluchtwege für die Betroffenen sind außerhalb der Ukraine weitgehend offen. Auf europäischer Ebene wurde die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie aktiviert. Diese entstand im Nachgang zum Krieg im früheren Jugoslawien und wird nun erstmals angewendet. Geflüchtete müssen damit kein langwieriges bürokratisches Verfahren durchlaufen indem ihr individueller Anspruch auf Asyl geprüft wird, sondern erhalten einen Aufenthaltsstatus des „vorübergehenden Schutzes“. Verbunden damit sind auch ein direkter Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Bildungsangeboten, Sozialleistungen und ein Anspruch auf angemessene Unterbringung.
Auch innerhalb der aktuellen Fluchtbewegung aus der Ukraine kommt es zu Unterscheidungen. Eigentlich gilt die Massenzustrom-Richtlinie ja auch für Menschen aus Drittstaaten, die ebenfalls vor dem Krieg aus der Ukraine fliehen.
Richtig. In Österreich etwa gelten strengere Regeln für Personen, die nicht aus der Ukraine stammen, sich dort aber bei Ausbruch des Krieges aufgehalten haben. Sie erhalten zwar eine Einreise aus humanitären Gründen, müssen jedoch einen Asylantrag stellen. Die EU-Richtlinie enthält in diesem Punkt lediglich eine Kann-Bestimmung, die durch nationales Recht variiert werden kann. In Deutschland wird hier nicht unterschieden.
Wie charakterisieren Sie die Stimmung im Hinblick auf die Geflüchteten im Vergleich zu 2015?
Die Geflüchteten werden als Europäerinnen und Europäer wahrgenommen, die in Folge eines russischen Angriffskrieges ihr Land verlassen müssen. Die Fluchtsituation ist dadurch weit weniger umstritten als die 2015/16. Es besteht Konsens darüber, dass wir es mit einer humanitären Notlage katastrophalen Ausmaßes zu tun haben. Dieser Krieg findet in Europa statt und wird als Bedrohung der Idee Europas betrachtet. Die Fluchtbewegung in den 2015/16 hingegen wurde in Teilen der politischen Elite und Bevölkerung als Bedrohung Europas und seiner Grenzen diskutiert. Es war die Geburtsstunde von Pegida (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes)!
Zudem ist die Migration aus der Ukraine sehr weiblich geprägt – ein großer Unterschied zu 2015. Es sind vor allem Frauen und Kinder, die auf der Flucht sind, während die Männer im Land bleiben müssen. Frauen und Kinder werden als vulnerable Gruppen wahrgenommen und gelten als besonders schutzbedürftig. Damit stellen sich auch spezielle Fragen von Betreuung und Zugang zum Arbeitsmarkt. Die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung ist groß und ist getragen von Mitgefühl, aber auch der eigenen Angst, da sich das Kriegsgeschehen in Europa abspielt. Zudem bestand in Deutschland schon vor dem Krieg eine ukrainische Community mit über 330.000 Menschen.